Die Genese einer Kapitelliste
Unter dem Titel „Statuta Rhispacensia Frisingensia Salisburgensia“ (BK 112) nahm Alfred Boretius die sogenannte Tripelsynode von Reisbach, Freising und Salzburg von 799/800 (bei Mordek 800-803) in seine Edition der Kapitularien auf. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Inscriptio des Textes in der Handschrift Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 130 Blank. (W), wo der Text als Decretum sinodale episcoporum ex iussione domni Karoli eingeführt wird. Auch wenn außer Frage steht, dass es sich bei den Kapiteln der Tripelsynode nicht um einen Herrschererlass handelt, lässt sich Boretius‘ Entscheidung, die Konzilsbeschlüsse in seine Edition aufzunehmen, erklären: Gleich mehrere Kapitulariensammlungen haben Auszüge der Kanones aufgenommen und den Kapitularien Karls des Großen zugeordnet.
Für diese Kapitulariensammlungen kann überwiegend entweder eine Entstehung in Italien (Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIII [I]; Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIV [I1]; Modena, Archivio Capitolare, O. I. 2 [Mo]; W), oder aber zumindest ein enger Zusammenhang mit italienischen Sammlungen nachgewiesen werden (Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. I. 84 [G]; München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 19416 [M8]). Hinzu kommen einige Handschriften aus Bayern, die zwar Kapitularien enthalten, aber diese in kanonistische Kontexte eingliedern (München, Bayerische Staatsbibliothek, 6333; München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 28135; Salzburg, Bibliothek der Erzabtei St. Peter, a. IX. 32).
Bei der Untersuchung dieser italienischen Kapitulariensammlungen fiel bereits Boretius auf, dass dort – abgesehen von W, in der alle 47 Kanones der Tripelsynode enthalten sind – lediglich die Kanones 13 bis 15 aufgenommen wurden. Zudem folgen diese drei Kapitel in allen fünf Handschriften auf die 22 Kapitel von Karls des Großen Diedenhofener Kapitular (Capitulare missorum in Theodonis villa datum secundum, generale; BK 44).
Ein bereits von Britta Mischke festgestelltes Kuriosum stellt die Kapitelzählung dieser Kanones in den Handschriften dar (vgl. Blogpost November 2022): G, I und Mo fügen die Kanones den Kapiteln des Diedenhofener Kapitulars hinzu und bilden somit eine 25-Kapitel-Liste. G zählt die Kanones folgerichtig als cc. 23-25 der Sammlung. I führt die Kanones zwar ebenfalls als cc. 23-25, allerdings steht Kanon 15 bzw. Nummer 25 dort vor Titel 14 bzw. 24. Der Schreiber weist auf diesen Umstand durch ein Umordnungszeichen neben der Kapitelzählung hin. Mo wiederum führt die Kanones als cc. 24-26, ein Umstand, der schlicht darauf zurückzuführen ist, dass bei der Zählung die Nummer VII übersprungen wurde und somit aus den 22 Kapiteln des Diedenhofener Erlasses 23 Kapitel wurden.
Abb.: Ivrea, BC, 34, fol. 31r (Ausschnitt): Kapitelzählung von BK 112, cc. 14 und 15 (©BEIC)
Während die drei Kanones der Tripelsynode in I1 und M8 ebenfalls auf die 22 Kapitel aus Diedenhofen folgen, werden sie dort als cap. V, XXVII und XV gezählt. Eine Erklärung für diesen Umstand konnte jüngst Takuro Tsuda liefern, der feststellte, dass can. 12 der Tripelsynode mit den Worten sicut in decretis papae Leonis continetur kap V endet, während der Schluss des ersten in unserer Sammlung enthaltenen Kanons (13) auf cap. XXVII der Dekretalen des Papstes Gelasius verweist. Es muss angenommen werden, dass die Schreiber diese Verweise als Kapitelzählung missverstanden, die sie dem jeweils folgenden Kanon zuordneten. Mit I1 (um 830) und M8 (9. Jh., Ende) betrachten also zwei der älteren Textzeugen unserer kleinen Liste die beiden Stücke (Diedenhofen und cc. 13-15 der Triplesynode) noch unabhängig voneinander. Dies muss folglich auch für ihre Vorlage angenommen werden. In dieser frühen Fassung kann also noch nicht von einer zusammenhängenden Kapitelsammlung gesprochen werden. Eine solche bilden unsere 25 Kapitel erstmalig in I (9. Jh., Mitte bis 2. Hälfte) und wie bereits erwähnt auch in den beiden späteren Handschriften G (10./11. Jh.) und Mo (Ende 10. Jh.). Abgesehen von der Entstehung während der Herrschaftszeit Karls des Großen besteht keinerlei inhaltlicher Zusammenhang zwischen den drei Kanones der Tripelsynode und dem Diedenhofener Kapitular. Daher muss davon ausgegangen werden, dass die Überlieferung unserer 25-Kapitel-Liste in den fünf Handschriften in einer sehr frühen Entwicklungsstufe auf dieselbe Vorlage zurückzuführen ist, obwohl sich die uns bekannten Handschriften klar in zwei verschiedene Gruppen teilen lassen. Erneut zeigt sich hier also eine Verbindung dieser italienischen Handschriften.
Unter den drei Handschriften, in denen das Diedenhofener Kapitular und die Kanones der Tripelsynode als gemeinsame Liste erscheinen, verdient I besondere Aufmerksamkeit. Zum einen handelt es sich, wie bereits erwähnt, um die älteste bekannte Handschrift, welche unsere beiden Texte als zusammenhängende Liste präsentiert, zum anderen finden sich in der Kapitelzählung gleich zwei Auffälligkeiten: Bereits erwähnt wurde die durch Umordnungszeichen ,korrigierte‘ Reihenfolge von can. 14 und 15 beziehungsweise cap. 24 und 25; darüber hinaus überspringt die Kapitelzählung das letzte Kapitel des Diedenhofener Kapitulars – die Zählung springt so von 21 auf 23. Kurioserweise enthält die Handschrift nach c. 21 zudem eine Leerzeile.
Beide Umstände erlauben Rückschlüsse bezüglich der Vorlage von I: Der Kapitelsprung von 21 zu 23 – wobei cap. 23 dem 13. Kanon der Tripelsynode entspricht – legt nahe, dass auch in der Vorlage der Handschrift beide Texte bereits mit einer durchgehenden Kapitelzählung (von 1 bis 25) versehen waren. Weniger eindeutig gestaltet sich die Interpretation der vertauschten Kanones 14 und 15 bzw. der Kapitel 24 und 25. Möglich wäre, dass die Vorlage von I – wie auch I1 und M8 – den Verweis auf Kapitel 27 der Dekretale des Gelasius enthielt. Das wiederum könnte den Schreiber von I veranlasst haben, die beiden Titel in die vermeintlich richtige (relative) Reihenfolge zu bringen und cap. XV vor cap. XXVII einzusortieren. Übernommen wurden diese Verweise aus den Kanones der Tripelsynode in I nicht. Wahrscheinlicher scheint daher nach Betrachtung des Schriftspiegels von fol. 145v in I, dass der Schreiber Kapitel 24 (oder can. 14) zunächst schlicht übersprungen hatte und seinen Fehler dann am Ende des Blatts korrigierte und dies über das Umordnungszeichen bei Kapitel 25 anzeigte. Diese Einschätzung ergibt sich daraus, dass Kapitel 24 zum einen in einer deutlich engeren Schrift geschrieben wurde als die übrigen Bestimmungen, zum anderen aber auch aus dem Umstand, dass nach der Kapitelzählung – anders als bei cc. 23 und 25 – kein Zeilenumbruch folgt, oder wie bei den Diedenhofener Kapiteln diese neben dem Schriftspiegel zu finden ist. Stattdessen wurde die Zählung hier in den Textblock integriert. Auch scheint die Tinte bei Kapitel 24 dunkler. Dass es sich um einen Nachtrag eines anderen Schreibers handelt, ist allerdings auszuschließen.
Wir müssen also davon ausgehen, dass die Vorlage von I bereits eine durchgängige Zählung unserer Liste enthielt, während dies für die Vorlage von I1 ausgeschlossen werden kann. Es zeigt sich erneut, dass Boretius‘ Einschätzung, die beiden Ivreer Handschriften seien „Abschriften desselben Originals“ (Boretius, Capitularien im Langobardenreich, S. 39), nicht zutrifft. Wie bereits Britta Mischke feststellen konnte (vgl. Blogpost November 2022), muss trotz der nicht abzustreitenden engen Verwandtschaft der beiden Ivreer Handschriften zumindest eine, heute verlorene Zwischenstufe angenommen werden.
Die Betrachtung der 25-Kapitel-Liste aus BK 44 und den drei Kapiteln der Tripelsynode (BK 112 c. 13-15) zeigt also zum einen erneut auf, dass zu Beginn des 9. Jahrhunderts weitere Kapitularienhandschriften in Italien kursiert haben müssen, die heute verloren sind. Zum anderen findet sich ein weiterer Nachweis für Verbindungen zwischen den uns bekannten italienischen Kapitularienhandschriften.
Abschließend sollen an dieser Stelle noch einige Überlegungen zu einer Frage formuliert werden, die in weiterem Zusammenhang mit unserer Liste stehen: 832 erließ Lothar I. in Pavia ein 13 Kapitel umfassendes Kapitular (BK 201). Die jüngsten Ergebnisse von Patrick Breternitz und Britta Mischke zeigen, dass – ebenso wie die Kapitel 1, 2 und 4-11 – auch die cc. 12 und 13 auf bereits bekannte Erlasse Karls des Großen und Ludwigs des Frommen zurückzuführen sind (Breternitz/Mischke 2022). Diese Vorlagen werden in Lothars Kapitular teils vollständig kopiert, teils erweitert oder verändert und teils nur ungefähr dem Inhalt nach übernommen. Es scheint selbstverständlich, dass auch Kapitel 3 – das einzige bisher nicht identifizierte Kapitel – auf eine Vorlage aus der Zeit Karls oder Ludwigs zurückgeht. Eine potentielle Vorlage für dieses Kapitel, in dem die Bestrafung und Amtsenthebung von Diakonen und Priestern behandelt wird, könnte sich in can. 12 der bereits angesprochenen Tripelsynode finden. Wenngleich dieses Kapitel in den oben besprochenen Sammlungen nicht enthalten ist, so muss es doch zumindest dem Schreiber vorgelegen haben, der die Kanones 13 bis 15 ursprünglich exzerpiert hatte – er übernahm schließlich fälschlicherweise den Verweis auf cap. V der Dekretalen Leos I. aus Kanon 12. Darüber hinaus findet sich Kanon 12 der Tripelsynode in einer weiteren italienischen Kapitulariensammlung des 9. Jahrhunderts: der bereits erwähnten Handschrift W. Hier wird BK 112 (cc. 13-15) zudem unter den Kapitularien Karls des Großen geführt, was insofern relevant ist, dass in BK 201 angegeben wird, dass sich das Kapitular ausschließlich aus Exzerpten der Kapitularien Karls und Ludwigs des Frommen zusammensetzt.
Wie c. 3 des Paveser Kapitulars behandelt auch can. 12 die Bestrafung und Amtsenthebung von Geistlichen. Zudem verweisen beide darauf, dass in solchen Fällen das kanonische Recht weitergehende Bestimmungen enthält. Abgesehen von dieser thematischen Ähnlichkeit unterscheiden sich die beiden Bestimmungen allerdings deutlich: Zum einen werden in can. 12 lediglich allgemein sacerdotes und somit keine bestimmten Weihegrade thematisiert, während in c. 3 von Pavia eindeutig Diakone und Priester ins Auge gefasst werden, zum anderen behandelt c. 3 die Bestrafung jener Kleriker weit umfangreicher. Eine eindeutige Identifizierung der Vorlage von c. 3 des Paveser Kapitulars kann an dieser Stelle folglich nicht angeboten werden, dass es sich bei diesem Kanon um die bisher noch nicht identifizierte Vorlage für c. 3 von BK 201 handelt, scheint allerdings zumindest möglich.
Dominik Leyendecker
Zur Handschriftenseite von Gotha Forschungsbibliothek, Memb. I. 84 (Beschreibung und Transkription)
Zur Handschriftenseite von Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIII (Beschreibung und Transkription)
Zur Handschriftenseite von Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIV (Beschreibung und Transkription)
Zur Handschriftenseite von Modena, Archivio Capitolare, O. I. 2 (Beschreibung und Transkription)
Zur Handschriftenseite von München, Bayerische Staatsbibliothek, 19416 (Beschreibung und Transkription)
Zur Handschriftenseite von Salzburg, Bibliothek der Erzabtei St. Peter, a. IX. 32 (Beschreibung und Transkription)
Zur Handschriftenseite von Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 130 Blank. (Beschreibung und Transkription)
Literatur:
Boretius 1864, S. 39–42
Mordek 1995
Bischoff 1998
Breternitz / Mischke 2022
Britta Mischke, Sammlung des Monats November 2022