Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Sammlung des Monats Februar 2020: Spuren einer verlorenen Kapitulariensammlung

Bald nach seiner Übernahme des Kaisertitels im Jahr 800 initiierte Karl der Große vielfältige Reformmaßnahmen zum Rechtswesen im Frankenreich. Diese umfassten nicht nur eine Revision bzw. erstmalige Kodifikation verschiedener Leges, sondern äußerten sich auch in einer zuvor nicht gekannten Intensität in der Produktion von Kapitularien (Ubl 2017, S. 174-191; Nelson 2019, S. 394-398). Die Kenntnis zumindest einiger der vielen diesbezüglichen Texte war für jeden Missus von großer Bedeutung, der sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, „seine“ Kapitularien nicht richtig gelesen zu haben und entsprechend das kaiserliche Missfallen auf sich zu ziehen (Nelson 2019, S. 435-438). Dies mag jedenfalls eine Motivation für die Erstellung einer in mehreren Handschriften überlieferten Kapitulariensammlung gewesen sein, zu deren Kernbestand u.a. BK 67 gehörte, eine Liste mit sechs Kapiteln, die z.T. direkt an die Missi gerichtet sind. So enthält BK 67 bezeichnenderweise mit c. 6 ausdrücklich eine Bestimmung, wonach jeder Missus, der ein Exemplar der Kapitel von BK 67 hat, diese auch an jene Missi übermitteln soll, die sie noch nicht haben, damit sich künftig niemand damit herausreden könne, er habe das Kapitular nicht gekannt.

Im Unterschied zu anderen Sammlungen besteht hier jedoch das Problem, dass ihre ursprüngliche Gestalt wohl nirgends mehr in Reinform erhalten ist, die Sammlung also nicht einfach anhand der Reihenfolge bestimmter Texte in einer gegebenen Handschrift identifiziert werden kann. Schreiber haben beim Kopieren einer Kapitulariensammlung oft genug größere und kleinere Umstellungen vorgenommen oder Nachträge hinzugefügt, und nur in den seltensten Fällen wurde eine ganze Handschrift, oder auch nur ein kompletter Abschnitt daraus, unverändert abgeschrieben. So kommt es, dass potentiell jede Kapitularienhandschrift einerseits in ihrer Gesamtheit als eine Sammlung bezeichnet werden kann – so etwa häufig bei Mordek 1995 –, andererseits aber zugleich eine Kombination mehrerer Teilsammlungen darstellt. Für eine differenzierte Rekonstruktion der sammlerischen Motivation(en) hinter einer Kapitularienhandschrift ist es daher wichtig, derartige Teilsammlungen und wiederkehrende Textverbindungen (auch zu Texten einer anderen Gattung) zu identifizieren.

Als Beispiel für die dabei auftretenden methodischen Probleme soll hier die oben bereits angesprochene Teilsammlung um BK 67 dienen. Ausgangspunkt ist zunächst eine Betrachtung der 20 Handschriften von BK 67 und dort wiederholt auftretender Textkombinationen. Bereits Mordek hatte auf eine „fraglos bayerisch[e] Rechtskodifikation“ hingewiesen (Mordek 1995, S. 314f., 400; das Zitat S. 315), die sich u.a. in der Koppelung mit BK 69, einer von Boretius als „Capitulare Baiwaricum“ bezeichneten Kapitelliste, ausdrückt. Die Zusammenstellung lässt sich noch in vier Handschriften gut erkennen (München, clm 5260, dessen Kopie clm 3519, ferner clm 19415 sowie das Fragment Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs 110 477b/47). Im Folgenden soll es jedoch um eine weitere Gruppe von drei Handschriften von BK 67 gehen, die wohl unabhängig voneinander auf eine verlorene Kapitulariensammlung zurückgehen. Es handelt sich dabei um die Handschriften Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. V, App. 96 sowie die beiden jeweils BK 67 fragmentarisch abbrechenden Überlieferungen in Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 107 und Sankt Petersburg, Rossijskaja Nacional’naja Biblioteka, Q. v. II. 11.

Die Sammlung beinhaltete vermutlich die folgenden Texte:
(1) BK 40 (mit einer auffälligen, aber auch anderswo begegnenden Umstellung von c. 23-24 hinter c. 28; mehrere der 29 kurzen Kapitel richten sich ausdrücklich an die Missi)
(2) c. 3 von BK 104 (letzteres eine Zusammenstellung verstreut überlieferter Kapitel, von Boretius als „Capitula Francica“ ediert; c. 3 richtet sich erneut an die Missi)
(3) die Recapitulatio solidorum (eine Zusammenstellung der verschiedenen in der Lex Salica vorgeschriebenen Bußsummen, siehe Ubl 2018)
(4) BK 67 (mit der bezeichnenden, u.a. in der Nürnberger Handschrift erhaltenen Rubrik: “Hec capitula missi nostri cognita faciant omnibus in omnes partes” – “Diese Kapitel machen unsere Missi allen in allen Gebieten bekannt”).

Abb. Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 107, fol. 142r: Leicht variierte Rubrik zu BK 67 (© Fondation Martin Bodmer)

Ob die Kombination mit c. 3 von BK 104 ursprünglich ist oder eine sekundäre Ergänzung darstellt, ist nicht ganz sicher, da das Kapitel nur in diesen drei Handschriften vorkommt, aber in der ebenfalls die Reihenfolge BK 40 – Recapitulatio solidorum – BK 67 aufweisenden Handschrift Paris lat. 4995 fehlt. Allerdings fehlt dort auch die Kapitelumstellung in BK 40 sowie dessen c. 29, weshalb das genaue Verhältnis der Pariser Handschrift (mit ihrem öfters sinnentstellenden Text) noch der näheren Untersuchung bedarf.

Die Recapitulatio solidorum wiederum fehlt in der Nürnberger Handschrift, ist aber in den Handschriften aus Cologny und Sankt Petersburg jeweils in der von ihrem letzten Editor als „A1“ bezeichneten Fassung enthalten. Zwei weitere Handschriften mit der A1-Fassung enthalten dagegen zwar nicht BK 67, aber BK 40 mit der Umstellung von c. 23-24. Zumindest eine dieser Handschriften, Modena, Biblioteca Capitolare, O. I. 2, repräsentiert ihrerseits eine große Kapitulariensammlung (den sogenannten „Liber legum“ des Lupus), die bekannt für ihre selbständige Materialanordnung ist. Die von Lupus benutzten Sammlungen lassen sich daher generell nicht mehr anhand ihrer individuellen Kapitularienreihung erkennen.

Innerhalb von BK 40 schließlich weisen zwar alle drei Handschriften die Umstellung von c. 23-24 auf. Zusätzlich sind aber in der Sankt Petersburger Handschrift auch noch c. 3-5 hinter c. 6 verschoben, und diese Umstellung findet sich ebenfalls in der Handschrift aus Cologny, die jedoch wiederum zwei weitere, eigene Störungen aufweist (Ausfall von c. 29, Verschiebung von c. 14 hinter c. 19).

Als vorläufige Hypothese ließe sich postulieren, dass die ursprüngliche Kapitulariensammlung noch zu Lebzeiten Karls des Großen von einem weltlichen Missus angefertigt wurde, möglicherweise bald nach dem Erlass von BK 67 mit seiner ausdrücklichen Bestimmung zur Weitergabe von Kapitularien von Missus zu Missus. Die Nürnberger Handschrift könnte entweder einen Seitenzweig repräsentieren, bei dem die Recapitulatio solidorum – immerhin kein Kapitular und vor allem für Amtsträger mit Funktionen im weltlichen Gericht relevant – entfernt wurde, oder aber dem verlorenen Archetyp nahe gestanden haben, der erst eine Störung in BK 40 aufgewiesen und die Recapitulatio noch nicht enthalten hatte. Die Handschriften von Sankt Petersburg und Cologny wären dann jeweils sukzessive weiter entfernte Ableitungen, bei denen die Verwirrung in BK 40 immer mehr zunahm. Wie stets bedarf eine solche Hypothese natürlich noch eines detaillierten Textvergleichs zu ihrer Überprüfung.

S. Kaschke


Literatur:

Mordek 1995
Ubl 2017
Ubl 2018
Nelson 2019

Empfohlene Zitierweise
Sören Kaschke, Sammlung des Monats Februar 2020: Spuren einer verlorenen Kapitulariensammlung, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/sammlung-des-monats-februar-2020-spuren-einer-verlorenen-kapitulariensammlung/ (abgerufen am 05.11.2024)