Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Kapitular des Monats November 2020: Capitula de rebus ecclesiasticis (BK 166)

Die Vermischung von weltlichem und kirchlichem Recht ist charakteristisch für die Kapitularien. Das kann nicht verwundern, denn der Schutz der Kirche war gleichermaßen das Ziel ihrer Vorsteher wie der karolingischen Herrscher. Daher wurden dieselben Themen sowohl auf Reichsversammlungen unter dem Vorsitz des Herrschers wie auf kirchlichen Synoden diskutiert und die dort gefassten Beschlüsse gingen in Kapitularien wie Konzilsakten ein. Die geistlichen Großen des Reiches setzten nicht nur die für sie wichtigen Themen auf die Agenda eines Treffens mit dem Herrscher, sie waren auch an der Verschriftlichung der dort verabschiedeten Erlasse beteiligt. Dadurch finden sich auch in Kapitularien Begriffe und Formulierungen, die man eher mit einem kirchlichen Kontext in Verbindung bringen würde, und mitunter ist es nicht mehr möglich, den Entstehungsanlass oder den ‚Autor‘ eines solchen hybriden Textes zu ermitteln.

Ein exemplarisches Beispiel für dieses Problem, mit dem die EditorInnen der Kapitularien oft konfrontiert werden, bietet eine Liste von vier Kapiteln, die Alfred Boretius unter dem Kunsttitel ‚Capitula de rebus ecclesiasticis‘ (BK 166) edierte. Die Liste deckt sich inhaltlich weitgehend mit den Bestimmungen des Capitulare Olonnense ecclesiasticum alterum Lothars I. von 825 (BK 164) und behandelt verschiedene Missstände aus dem kirchlichen Bereich wie die Bestechlichkeit von Bischöfen, das Zusammenleben von Priestern mit Frauen oder die Zweckentfremdung von Stiftungen, die dem Unterhalt der Armen dienen sollten (Hospize = Xenodochien). Der Text ist nur in drei Handschriften überliefert: Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. I 84 (10./11. Jh., Mainz; Kopie einer italienischen Sammlung aus dem Ende des 9. Jahrhunderts), Vercelli, Biblioteca Capitolare Eusebiana, CLXXIV (2. Hälfte 9. Jh., Oberitalien) und Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 130 Blank. (nach 855, Oberitalien/Pavia?). In den beiden Handschriften aus Gotha und Vercelli werden die Capitula de rebus ecclesiasticis als Erweiterung der Kapitulariensammlung des Ansegis (in der in Italien verbreiteten Fassung B1, siehe dazu Schmitz G 1996) und zusammen mit den beiden anderen Kapitularien überliefert, die außer BK 164 noch auf derselben Versammlung in Olonna 825 verabschiedet wurden (BK 163, das Capitulare Olonnense ecclesiasticum primum und BK 165, das Capitulare Olonnense mundanum). Hierbei hat BK 166 den Platz eingenommen, der üblicherweise dem Capitulare Olonnense ecclesiasticum alterum (BK 164) vorbehalten ist – nämlich als Teil eines Dossiers, das alle drei auf der Versammlung in Olonna 825 entstandenen Kapitularien zusammen überliefert, wie es auch in der Wolfenbütteler Handschrift der Fall ist. Dort finden sich auf fol. 106v–113r nämlich Kopien aller drei Texte (BK 165, 164, 163) wie z.B. auch in der Handschrift Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIV (um 830, Pavia; dort auf fol. 52r–55r). Der Wolfenbütteler Codex hat aber zusätzlich auch einen Auszug aus BK 166 (c. 1, 3 und 4) zu bieten, allerdings in einem Teil der Handschrift, der erst zu einem späteren Zeitpunkt aus anderer Vorlage kopiert wurde (im Rahmen einer Liste von 104 Kapiteln auf fol. 113v–120v, die nicht im Rubrikenverzeichnis der Handschrift erwähnt wird). Der Überlieferungsbefund zeigt, dass die beiden inhaltlich sehr ähnlichen Texte BK 164 und 166 getrennt voneinander in Umlauf waren.

Die Beziehung zwischen den beiden Texten ist unklar und wurde in der Forschung unterschiedlich gedeutet. Pertz verstand die Vier-Kapitel-Liste als ein eigenständiges Kapitular, das auf BK 164 rekurrierte und in einigen Punkten präzisierte, und datierte es auf den Italienaufenthalt Lothars von 829/830 (Pertz G 1835 S. 355). Boretius vermutete 1864, dass es sich auch um eine von einem Schreiber vorgenommene, inoffizielle Redaktion von BK 164 handeln könnte und die Entstehungszeit daher unsicher sei (Boretius 1864 S. 157f.). Im 1883 erschienenen ersten Band seiner Edition ließ er offen, ob es sich um eine offizielle oder inoffizielle Fassung handelt und datierte den Text aufgrund der inhaltlichen Nähe zu BK 164 auf „825 (?)“ (Boretius 1883 S. 331). De Clercq sah in BK 166 eine zweite, aus Beratungen der Bischöfe hervorgegangene Redaktion von BK 164, die vom Kaiser bestätigt worden sei (De Clercq C 1958 S. 45–48). Geiselhart entschied sich für den Datierungsansatz von Pertz (829/830) und vermutete, Lothar habe das 825 erlassene zweite Kirchenkapitular nach vierjähriger Abwesenheit zusammen mit den geistlichen Großen neu beraten und ergänzt, weil es seine Wirkung verfehlt habe (Geiselhart 2002 S. 179–184).

BK 166 ist im Vergleich mit BK 164 durchdachter strukturiert und zudem inhaltlich erweitert. So wurde die Reihenfolge der Kapitel (bei BK 164: sieben Kapitel) geändert und dabei die inhaltlich zusammenhängenden c. 2 und 3 sowie 5 und 6 jeweils zu einem Kapitel zusammengezogen (= BK 166 c. 4 und 2) sowie um ergänzende Bestimmungen erweitert.
BK 164 c. 1 (Vorsteher von Taufkirchen sollen nur Priester und keine Kleriker niedrigerer Weihen sein) wird von BK 166 ganz ausgelassen und ersetzt durch die Bestimmung, dass Bischöfe für die Weihe von Kirchen oder Hospizen keinen Lohn annehmen sollen. Ebenfalls nicht aufgegriffen wurde das letzte Kapitel (BK 164 c. 7), die aus Sicht des Kaisers formulierte Bestimmung, dass sich die Inhaber vernachlässigter Hospize und Klöster vor dem Kaiser persönlich verantworten sollten.

Abb.: Gegenüberstellung der Inhalte von BK 166 und BK 164.

Außerdem hat BK 166 an einer Stelle einen besseren Wortlaut: In BK 164 c. 5, in dem Priestern das Zusammenleben mit Frauen untersagt wird, wird die Zahl der über den Lebenswandel der Priester zu befragenden Zeugen mit „sieben bis drei“ (septem usque ad tres idoneos testes) angegeben. Diese offenbar verderbte Formulierung ist in BK 166 in ihrem ursprünglichen Sinn, nämlich mit „drei bis sieben“ (tribus usque ad septem) vorhanden.

Obwohl der Text von BK 164 weniger stringent und vollständig erscheint als die Fassung von BK 166, kann ersterer nicht bloß als inoffizieller Entwurf für letzteren angesehen werden. Dagegen spricht der Überlieferungskontext, der BK 164 stets in direkte Verbindung zum Capitulare Olonnense ecclesiasticum primum (BK 163) setzt und in einer Handschrift (Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi F. IV. 75; um 1000, Mittelitalien) durch eine unmittelbar folgende Datierung auch explizit derselben Versammlung in Olonna 825 zuweist. Die schlüssige Zusammenfassung der inhaltlich zusammenhängenden Kapitel aus BK 164 sowie stilistische Verbesserungen (z. B. Änderung von placuit ut in BK 164 c. 5 zu placuit und Infinitiv in BK 166 c. 2) lassen an eine redaktionelle Überarbeitung durch einen Sammler denken. Dagegen spricht jedoch, dass die aus BK 164 übernommenen Kapitel teilweise auch inhaltlich rechtsrelevante Erweiterungen erfuhren. Dafür seien zwei Beispiele angeführt:

1) In BK 166 c. 4 werden c. 2 und 3 aus BK 164 zusammengefasst, die sich auf die Pflicht der Priester (und allgemeiner der subiecti) zum Gehorsam gegenüber ihrem Bischof und die Pflicht, diesen zu unterstützen, beziehen. Neu ist hier allerdings der Zusatz, der auch die Bischöfe in die Pflicht nimmt, diese ihnen zustehende Unterstützung nicht auszunutzen. Wenn einer der Kirchenvorsteher dem zuwiderhandelte, sollte er durch Missi angezeigt werden und durch eine canonica invectio a nobis promulgata, also eine „von uns verkündete kanonische Rüge“ bestraft werden.

2) BK 166 c. 3 wiederholt im Wesentlichen den Inhalt von BK 164 c. 4, nämlich dass die Hospize nach Möglichkeit gemäß dem (testamentarisch niedergelegten) Willen der Stifter geführt werden sollen; d.h. dass sie tatsächlich ihrem Stiftungszweck entsprechend für die Versorgung der pauperes sorgen sollten. Darüber hinaus wird aber festgelegt, dass dort, wo dies nicht der Fall sei – entweder weil kein entsprechendes Testament existierte oder weil die darin verfügten Bestimmungen nicht beachtet wurden – wenigstens der fünfte Teil der Erträge zur Versorgung der Armen verwendet werden solle (In his vero, quae ab initio iustae rationis dispositione caruerunt, volumus, ut quinta pars fructuum pauperibus detur); es handelt sich also um eine pragmatische Anpassung der geforderten Norm an die tatsächlichen Verhältnisse. Die Zuteilung des fünften Teils der Erträge an die Armen wird auch im Konzil von Mailand 863 c. 4 erwähnt (Iam pridem constitutum est, ut de senodochiis, quae iuxta testatoris institutionem consistere nequeunt, quinta saltim pars hospitibus vel pauperibus erogetur; Hartmann W 1998 S. 161; vgl. dazu Boshof 1984 S. 161).

In beiden Fällen sind die ergänzten Passagen in der ersten Person Plural, also aus Sicht des Ausstellers, formuliert (a nobis promulgata, volumus) und können daher kaum eigenständige Zusätze eines Sammlers sein (vgl. Geiselhart 2002 S. 181). Doch ist es wirklich der Kaiser, der hier im Pluralis maiestatis spricht? Könnten es nicht auch die auf einem Konzil versammelten Bischöfe sein? Die Parallele zum Mailänder Konzil könnte dafürsprechen, und auch die Androhung einer „kanonischen Rüge“ als Strafe würde man eher aus dem Mund von Bischöfen erwarten als von einem Kaiser, wie schon De Clercq bemerkt hat (De Clercq C 1958 S. 48). Eine Parallele findet sich allerdings im Capitulare ecclesiasticum Ludwigs des Frommen von 818/819 (BK 138 c. 17): Statutum est ab episcopis …, ut … contemptores sacrorum canonum canonica invectione feriantur. An dieser Stelle wird deutlich, dass es tatsächlich die in Aachen 818/819 versammelten Bischöfe waren, die eine solche Strafandrohung festgesetzt hatten (in diesem Fall: gegen widerspenstige Priester, die sich nicht darum scherten, dass ihr Bischof etwas gegen eine Frau in ihrem Haushalt hatte). Aber auch hier findet sich die entsprechende Bestimmung eben nicht in einem Konzilsbeschluss, sondern in einem im Namen des Kaisers verkündeten Kapitular. Auch die in BK 166 c. 4 erwähnten Missi, die Bericht erstatten sollten über die unbotmäßigen Kirchenvorsteher, deuten auf den Kaiser als Urheber der neu hinzugekommenen Teile der Kapitelliste hin. In der Überlieferung erscheint die Kapitelliste ebenfalls als ein Erlass Kaiser Lothars: In der ältesten der drei Handschriften, derjenigen aus Vercelli, lautet die Rubrik zu Beginn des ersten der drei Kapitularien von Olonna 825 (BK 165) Item alia capitula domni Hlotharii imperatoris, und die folgenden beiden Listen BK 163 und 166 sind überschrieben mit Item alia capitula. In den Handschriften aus Gotha und Wolfenbüttel haben die Kapitel(auszüge) keine eigene Rubrik, sind aber jeweils integriert in einen Block mit Kapitularien Lothars.

Es spricht also einiges dafür, in dieser Liste eine vom Kaiser selbst aktualisierte Version des zweiten Kirchenkapitulars von Olonna 825 zu sehen, die unter maßgeblicher Beteiligung von Bischöfen entstanden sein muss, wie es Geiselhart vorgeschlagen hat. Die Kapitelliste zeigt eindrücklich, wie weit die Zusammenarbeit von weltlichem Herrscher und seinen geistlichen Beratern in der Gesetzgebung gehen konnte.

Britta Mischke


Literatur:

Pertz G 1835
Boretius 1864
Boretius 1883, S. 331f.
Werminghoff 1908
De Clercq C 1958
Boshof 1984
Hartmann W 1989
Schmitz G 1996, S. 221–224 und 227–229
Hartmann W 1998
Geiselhart 2002
Patzold 2008a

Empfohlene Zitierweise
Britta Mischke, Kapitular des Monats November 2020: Capitula de rebus ecclesiasticis (BK 166), in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/kapitular-des-monats-november-2020-capitula-de-rebus-ecclesiasticis-bk-166/ (abgerufen am 28.03.2024)