Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Kapitular des Monats März 2017: “Capitula legi Salicae addita” [BK 142]

Die Kapitularien sind in ihrer Gestalt und in ihrem Inhalt so heterogen, dass es bislang nicht gelungen ist, eine allen Ansprüchen und Einsprüchen genügende Definition zu finden. Die Capitula legi Salicae addita aus der Zeit Ludwigs des Frommen gehören zu jenen Stücken, die sich nur sehr schwer als „Erlasse der Staatsgewalt“ (Ganshof) oder als „Herrschererlasse“ (Mordek) begreifen lassen. Denn der Kaiser war an der Entstehung dieser Kapitel, die zu einigen Regelungen der Lex Salica Stellung nehmen, offenkundig nicht beteiligt. Der Text spricht entweder im Passiv (iudicatum est) oder er schreibt die Entscheidung einer nicht näher bestimmten Gruppe (iudicaverunt) zu, die man in der Forschung als fränkische Rechtskundige identifiziert. Wie c. 7 zu erkennen gibt, fand die Versammlung ohne den Kaiser statt. Zu der Rechtsfrage dieses Kapitels hat die Versammlung keinen Beschluss gefällt, denn „sie wollten es der Befragung des Herrn Kaisers vorbehalten“ (ad interrogationem domni imperatoris reservare voluerunt). Über den Ausgang der Befragung gibt das Kapitular keinen Aufschluss.

Der Herausgeber Alfred Boretius fand gleichwohl einen Weg, diesen Text zu einem Kapitular mit Rechtskraft zu machen (Boretius 1874, S. 31). Boretius benutzte dafür eine Information aus den Capitula de functionibus publicis (BK 143), wo es im letzten Kapitel (c. 5) heißt: „Allgemein ermahnen wir alle, dass die Kapitel, die wir im vergangenen Jahr mit der Zustimmung aller der Lex Salica hinzuzufügen befahlen, nicht mehr weiterhin Kapitel, sondern Gesetz genannt werden, ja sogar als Gesetz eingehalten werden.“ (Generaliter omnes admonemus, ut capitula que praeterito anno legis Salicae per omnium consensum addenda esse censuimus iam non ulterius capitula sed tantum lex dicantur immo pro lege teneantur.)

Abb.: Paris, BN, Lat. 2718, fol. 73r: BK 143, c. 5 (© gallica.bnf.fr).

Für Boretius lag die Sache klar auf der Hand: Ludwig der Fromme hat die Capitula legi Salicae addita ein Jahr später bestätigt, sie zur lex erhoben und ihnen damit volle Rechtskraft verliehen.

Die Kombination der beiden Quellen hat die Nachwelt überzeugt, nicht zuletzt durch die Festschreibung in der bis heute gültigen Edition von Boretius in den MGH. Gerhard Seeliger (Seeliger 1893, S. 54), Heinrich Brunner (Brunner H 1906, S. 545), François Louis Ganshof (Ganshof 1961, S. 118) und Hubert Mordek (Mordek 2000b, S. 21) akzeptierten die Deutung. Nur der Erzkritiker der deutschen Rechtsgeschichte, Simon Stein, zweifelte daran, wie „man das Cap. 142 mit Gesetzeskraft ausstatten konnte, ohne die Lösung der Frage des § 7 zu geben“ (Stein 1926, S. 293). Der Kaiser hatte ja noch immer keine Antwort auf diese Frage gegeben! Zuletzt schloss sich Steffen Patzold dieser Kritik an und gab zu bedenken, ob Ludwig „jemals ein entsprechendes Kapitular erlassen hat“ (Patzold 2005, S. 90).

Was aber, wenn die Kombination der beiden Quellen gar nicht zutrifft? Auffällig ist ja, dass der Verweis in BK 143 von einem Kapitular spricht, das von einer Reichsversammlung (per omnium consensum) durch den Kaiser verabschiedet und der Lex Salica hinzugefügt (addenda) wurde. BK 142 entstand jedoch in Abwesenheit des Kaisers und kaum auf einer Reichsversammlung, sondern viel eher auf einer regionalen Versammlung von fränkischen Rechtskundigen. Auch ist in BK 142 nicht davon die Rede, dass die Kapitel der Lex Salica angefügt werden sollten (was auch in keiner Handschrift geschah). Vielmehr handelt es sich bei BK 142 um ein Weistum, das bloß feststellt, in welcher Hinsicht die Lex Salica den Gewohnheiten der eigenen Zeit entspricht.

Noch ein weiteres Argument spricht gegen die Kombination von BK 142 und BK 143: in keiner Handschrift sind beide Texte gemeinsam überliefert:

BK 142 BK 143
Paris, lat. 10758
(Hinkmar von Reims;
zusammenhängend mit Paris, lat. 4628A und Paris, lat. 4631)
Paris, lat. 2718 (zweimal)
Paris, lat. 4632 Paris, NAL 204
Sélestat, 14 (Bezug zu Reims) Wolfenbüttel, Blank. 130

Es hätte daher überhaupt keinen Benutzer geben können, der den Verweis verstanden hätte. Kann es sein, dass die Überlieferung den Absichten des Kaisers einen solchen Streich gespielt hat?

Meines Erachtens muss sich der Verweis von BK 143 auf ein anderes Kapitular beziehen: und zwar auf ein Kapitular, das (a) in Gegenwart des Kaisers, (b) von einer Reichsversammlung sowie (c) als Ergänzungskapitular erlassen wurde und das (d) auch in den drei Handschriften von BK 143 überliefert ist. Alle vier Bedingungen erfüllen die Capitula legibus addenda von 818/819 (BK 139). Diese Vermutung wird zur Gewissheit, wenn wir eine weitere Information, die uns Paris, NAL 204 überliefert, heranziehen. Dort können wir als Vorwort lesen, dass der Kaiser die Capitula legibus addenda in Aachen als Ergänzung zur Lex Salica erlassen und später auf einer allgemeinen Reichsversammlung in Diedenhofen (Thionville) bestätigt und zur lex erhoben hat (Incipiunt capitula quae domnus Hludouuicus serenissimus imperator … in Aquisgrano palatio promulgavit atque legis Salicae addere … praecepit ipsaque postea, cum in Theodone villa generale conventum habuisset, ulterius capitula appellandum esse prohibuit sed tantum lex dicenda … praecepit. Boretius 1883, S. 280). Dies entspricht genau der Information aus c. 5 von BK 143. Aus anderen Quellen kennen wir das Datum der Diedenhofener Reichsversammlung: Oktober 821 (BM² 740d).

Auch diese Lösung bringt aber Schwierigkeiten mit sich. Erstens ist BK 139 ein Kapitular, das allen leges und nicht allein der Lex Salica hinzugefügt werden sollte, während der Verweis von BK 143 von einer Ergänzung der Lex Salica spricht. Diesem Einwand kann aber entgegnet werden, dass BK 139 in Paris, NAL 204 und in Paris, lat. 4632 als Ergänzung der Lex Salica überschrieben wurde und dass die Regelungen von BK 139 weitgehend auf fränkischem Recht beruhen. Ein zweiter Einwand betrifft die Datierung. Wenn BK 143 erst 821 in Diedenhofen entstanden ist, kann sich der Verweis “im vergangenen Jahr” (praeterito anno) nicht auf das Anfang 819 entstandene Kapitular BK 139 beziehen.

Trotz dieser Schwierigkeiten gibt es meines Erachtens gute Gründe daran zu zweifeln, dass die Capitula legi Salicae addita (BK 142) jemals in den Rang eines Gesetzes erhoben worden sind. Vielmehr handelt es sich wahrscheinlich um ein internes Beratungsdokument, welches dem Kaiser vorgelegt wurde.

K. Ubl


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Literatur:

Boretius 1874, S. 31
Boretius 1883, S. 280
Brunner H 1906, S. 545
Ganshof 1961, S. 118
Geffcken 1898, S. 279–282
Mordek 2000b, S. 21
Nehlsen 1977, S. 473
Patzold 2005, S. 90
Schmidt-Recla 2011, S. 190–192
Seeliger 1893, S. 54
Stein 1926, S. 293
Ubl 2017, S. 209–211

Empfohlene Zitierweise
Karl Ubl, Kapitular des Monats März 2017: “Capitula legi Salicae addita” [BK 142], in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/kapitular-des-monats-bk-142/ (abgerufen am 21.11.2024)