Jeder, der sich mit der Überlieferungsgeschichte antiker und mittelalterlicher Texte beschäftigt, kennt vermutlich die Handschrift Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 5757. Es handelt sich um den berühmten Palimpsest von Ciceros De re publica, den Angelo Mai im Jahre 1819 entdeckte (CLA I 35; Blogbeitrag der Vaticana). Ohne die Entdeckung Mais wäre Ciceros staatsphilosophisches Werk wohl weiterhin kaum bekannt geblieben. Der Palimpsest ist der einzige – leider unvollständige – Textzeuge von De re publica; somit hat es das Schicksal mehrfach schlecht mit diesem Text gemeint: er ist nur unikal überliefert, zusätzlich nur als Palimpsest und zudem unvollständig. Das Farbdigitalisat der Vaticana bietet neben den Aufnahmen mit natürlichem Licht auch diejenigen mit UV-Licht, sodass man sehr gut die unterschiedlichen textlichen Schichten sehen kann.
Die Überlieferungssituation der allermeisten Kapitularien ist glücklicherweise nicht ganz so prekär. Ein Stück, das unter Ludwig dem Frommen erlassen wurde, hat aber ein ähnlich schweres Schicksal: das Capitulare de moneta (BK 147; Boretius 1883, S. 299–300). Es wird unikal in der Handschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 4788 tradiert. Diese Handschrift datiert in die Mitte bzw. ins 3. Viertel des 9. Jahrhunderts und wurde in Frankreich geschrieben. Sie überliefert neben der Lex Salica zu Beginn vornehmlich die Gesetzgebung von 818/819 (Mordek 1995, S. 546–549). Am Schluss folgen BK 146, das Capitulare de disciplina palatii Aquisgranensis (foll. 114r-117r), das ebenfalls nur in dieser Handschrift auf uns gekommen ist, und das besagte Münzkapitular. Der Codex ist leider insgesamt durch Feuchtigkeitseinfluss schwer in Mitleidenschaft gezogen worden und daher teilweise kaum mehr lesbar. Dies gilt vor allem für BK 147 ganz am Ende der Handschrift (foll. 117r-118), das heute bis auf wenige Buchstaben und Silben unleserlich geworden ist. Schon Pertz (Pertz G 1835, S. 159) konnte den Text nur sehr lückenhaft entziffern, Boretius (Boretius 1883, S. 299) musste dann auf die Ergebnisse von Pertz zurückgreifen, da er kaum mehr etwas lesen konnte.
Abb.: Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 4788, foll. 117v-118r: BK 147. (© Gallica)
Dass das Stück fast unlesbar ist, stellt für die Neuedition der Kapitularien eine sehr unbefriedigende Situation dar. BK 147, das sehr wahrscheinlich zu Beginn der 820er Jahre erlassen wurde (822?), ist das einzige Kapitular der Regierungszeit Ludwigs des Frommen, das sich ganz explizit mit Münzpolitik beschäftigt. Allein schon aus diesem Grund kann sich die Neuedition nicht damit zufrieden geben, den Text von Pertz erneut abzudrucken. Darüber hinaus würde dies bedeuten, keinen Mehrwert gegenüber dem 19. Jahrhundert zu erreichen, was für eine Neuedition vermieden werden sollte, zumal heutzutage die technischen Voraussetzungen vorliegen, um den Text des Kapitulars eventuell wieder sichtbar zu machen, und zwar mithilfe der sog. Multispektralanalyse. Notwendig wird eine genaue technische Untersuchung auch durch den Umstand, dass das Capitulare de moneta unikal überliefert ist. Es kann also keine weitere Handschrift bzw. weitere Handschriften herangezogen werden, um den Text zu konstituieren, wobei die Edition von Pertz quasi selbst schon zum Textzeugen wird, da er noch am meisten lesen konnte. Die zahlreichen Kapitularienausgaben der Frühen Neuzeit haben das Stück leider nicht gekannt. Baluze gibt für das unmittelbar vor BK 147 stehende BK 146, dessen Edition er mitten in c. 5 abbrechen musste, selbst an: „Cetera ita obliterata et deleta sunt in codice MS. ut legi nulla arte potuerint“ (Baluze 1677, Sp. 344). Aber selbst wenn man weitere Textzeugen hätte, wäre es unzulässig, den Text im Parisinus einfach zu ignorieren, es sei denn, man könnte den Text sicher aus den anderen Handschriften konstituieren. Diese Vorgehensweise wäre zwar editorisch vertretbar, würde aber ein unbefriedigendes Gefühl erzeugen, da immer eine Unsicherheit zurückbleibt. Es könnte ja sein, dass der Parisinus sehr wichtig für die Überlieferungsgeschichte ist, was man aber sicher nur auf Grundlage der Kenntnis des Textes feststellen kann. Ein gewisses editorisches Dilemma würde sich anbahnen. Sollte aber selbst eine Multispektralanalyse nicht zum gewünschten Ergebnis führen bzw. den Text nur teilweise wieder lesbar machen können, muss man weiterhin auf die lückenreiche Transkription von Pertz zurückgreifen, die damit ihren Charakter als quasi-Textzeuge behielte.
Die Multispektralanalyse ist ein sehr aufwendiges technisches Verfahren, das nur von Spezialisten durchgeführt werden kann. Dabei werden die Untersuchungsobjekte mit speziellen LED-Panels beleuchtet, um verschiedene Wellenlängen des Lichts nutzen zu können, und mit Spezialkameras fotografiert. Solche Spezialisten arbeiten im SFB „Manuskriptkulturen“ in Hamburg, mit denen das Kapitularienprojekt kooperiert, um die Handschrift Paris Lat. 4788 zu untersuchen und den Text von BK 147 hoffentlich wieder sichtbar zu machen. Zu welchen beeindruckenden Ergebnissen man mithilfe der Multispektralanalyse und der Experten des SFB kommen kann, haben vor wenigen Jahren die Untersuchung einer Handschrift der Chronik Frutolfs von Michelsberg, die in Jena aufbewahrt wird (Blogbeitrag der MGH), oder einer Handschrift mit Lucans Bellum civile aus Wolfenbüttel gezeigt (Blogbeitrag des SFB). Nachdem die Pariser Nationalbibliothek die spezielle Untersuchung in eigens zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten genehmigt hatte, musste die für das Frühjahr 2020 geplante Autopsie in Paris wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Diese Untersuchung soll nachgeholt werden, sobald es die Pandemie zulässt. Allerdings hat dies zur Folge, dass das Kapitular erst in einem späteren Band der Neuedition erscheinen wird.
Für das Münzkapitular Ludwigs des Frommen bedeutet dies im Idealfall, dass der Text vollständig oder zumindest weitestgehend vollständig entziffert werden kann. Erst dann kann eine richtige Einordnung und Analyse des Stücks erfolgen, die weitere wichtige Erkenntnisse in Bezug auf die karolingische Münzpolitik zulassen.
Dominik Trump
Literatur
Baluze 1677
Pertz G 1835
Boretius 1883
Mordek 1995