Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Kapitel des Monats April 2023: Zusatzkapitel zu BK 201 in Paris, BNF, lat. 4613

Im Februar 832 verabschiedete Kaiser Lothar I. in Pavia mit der Zustimmung seiner italienischen Getreuen ein Kapitular, mit dem er ausgewählte Bestimmungen seiner kaiserlichen Vorgänger, Ludwigs des Frommen und Karls des Großen, bestätigte: das sogenannte Capitulare Papiense (BK 201). Die erneut bekräftigten Kapitel werden größtenteils wörtlich zitiert. Die Liste von 13 Kapiteln endet mit einem Epilog, in dem befohlen wird, diese Kapitel wie Gesetze zu beachten. In einigen Handschriften, die das Kapitular überliefern, wurden weitere Zusatzkapitel an die Liste angehängt. So folgen z. B. in der Handschrift Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi F. IV. 75 noch drei weitere Kapitel aus Kapitularien Karls des Großen (BK 44 c. 1 sowie BK 40 c. 4 und 8), die aus unbekannten Gründen hier ergänzt wurden. Zur originalen Liste können sie aber nicht gehört haben, denn sie sind einerseits nur hier im Zusammenhang mit BK 201 überliefert, andererseits wurden sie erst nach dem Epilog angehängt, der klar den Schluss der Liste markiert.

Einen weiteren, aber etwas komplizierteren Fall stellen die Zusatzkapitel zu BK 201 in der Handschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 4613 (P5) dar. Die Handschrift, die jüngst von Antonio Ciaralli in das 11. Jahrhundert datiert und nach Süditalien lokalisiert wurde, tradiert eine umfangreiche Kapitulariensammlung mit einigen wertvollen Unikaten (BK 25, 33, 96, 105 c. 4-5 und 219 c. 3-4). Der Sammler organisierte das Material in teils sehr langen Listen, die er jeweils mit einer durchgehenden Kapitelzählung versah. Mit dem Capitulare Papiense beginnt eine eigene Liste, die aus 16 Kapiteln besteht (fol. 94v–97r).

Abb.: Beginn der Kapitelliste BK 201 in P5 auf fol. 94v (© Gallica)

Davon gehören die ersten 12 tatsächlich zu BK 201 (c. 9 und 10 fehlen in P5, der Epilog wird als eigenes Kapitel gezählt), doch die als 13-16 gezählten Kapitel sind Zusatzkapitel unbekannter Herkunft. Auch diese Kapitel gehören, aus denselben Gründen wie bei der Chigi-Handschrift, sicher nicht zum ursprünglichen Bestand des Kapitulars.
Drei von ihnen befassen sich mit dem Status von Ehepaaren, die einen unterschiedlichen Rechtsstatus haben, was vielleicht der Grund dafür sein könnte, warum die Kapitel im Anschluss an das Kapitular eingefügt wurden. Das Capitulare Papiense hat in c. 12 nämlich ebenfalls eine Bestimmung zu diesem Thema (vgl. Breternitz/Mischke 2022, S. 120–126). Das letzte der Zusatzkapitel legt eine Strafe für die Verletzung eines Geistlichen fest und könnte thematisch zu c. 2 des Capitulare Papiense passen, in dem BK 139 c. 2 (De iniuriis sacerdotum in ecclesiis factis) wiederholt wird.
Eines von ihnen, das als XV gezählte Kapitel der vier Zusätze, ist eine weitestgehend wörtliche Wiederholung einer Bestimmung Lothars aus dem Capitulare Olonnense von 822/823 (BK 157 c. 4; die Übereinstimmungen mit dem originalen Wortlaut sind im Folgenden fett gesetzt):

XV. Statutum est, ut, si quis liber homo uxore habens liberam propter aliquid crimen aut debitum servitium alteri se subdidit eademque coniux cum ipso manere noluerit, ipsorum procreatio, que tali coniugio sit, libertatis statutum non ammittat. Si vero ea defuncta secunda uxor et tamen libera tali se sciens tulerit, iuncxerit coniugio, liberi eorum subdantur.

Hier wird festgelegt, dass die Nachkommen einer freien Frau und ihres Ehemannes, wenn dieser sich in Schuldknechtschaft begeben musste, dennoch Freie bleiben sollen, während die Kinder einer zweiten Ehe des Mannes ebenfalls zu Unfreien werden sollten wie ihr Vater. Auffällig ist, dass sich der Schreiber von P5 in dem fast wortwörtlich zitierten Text ausgerechnet an einer inhaltlich entscheidenden Stelle verschrieben hat: Statt noluerit steht im originalen Text von BK 157 c. 4 voluerit. Im Text von P5 steht also nicht, dass die Kinder der freien Frau den Status der Freiheit nicht verlieren sollen, wenn sie bei ihrem Mann bleiben möchte, sondern wenn sie das NICHT möchte. Hat sich der Schreiber hier zufällig verschrieben, oder wollte er den Sinn des Kapitels bewusst manipulieren?

Auch bei dem vierten Zusatzkapitel handelt es sich, stark verkürzt, um eine bereits aus anderen Kapitulariensammlungen bekannte Bestimmung – wenn auch kein Kapitular. Es handelt sich um einen Auszug aus einer den Kaisern Theodosius II. und Valentinian III. zugeschriebenen Konstitution, die in der Spätantike gefälscht wurde und oft im Kontext der Kapitularien überliefert ist (BK 232; vgl. Kaiser W 2007, S. 255–272).

XVI. Si quis percusserit presbiter, id est sacerdos, conponat aurum optime libre X.

Im Original lautet der Text der Bestimmung: Si quis percusserit sacerdotem, id est presbiterum siue diaconum, decretum est ut det poenam auri libras X, id est solidos DCCXX (BK 232 c. 2; zitiert nach der Neuedition von Kaiser W 2007 S. 270). Trotz der starken Kürzung und – wiederum – teilweisen Sinnentstellung ist mit Wolfgang Kaiser anzunehmen, dass die Vorlage für dieses Zusatzkapitel tatsächlich die Kaiserkonstitution war, die in dieser Fassung ausschließlich in italienischen und etwa mit P5 zeitgleich entstandenen Handschriften überliefert ist.

Bei den ersten beiden Zusatzkapiteln scheint es sich hingegen nicht um Wiederholungen bekannter Texte zu handeln – jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Sieht man jedoch vom Wortlaut ab und zieht nur den Inhalt in Betracht, so entpuppen sich die c. XIII und XIIII ebenfalls als anderweitig bereits bekannte Bestimmungen.

XIII. Placuit nobis de liberis feminis, que sibi servi copulant, sicut ad nostram en [sic] regiam potestatem perteneunt, ita volumus, ut inceps ad ipsos Langobardos perteneant ipse et filiis suis et filiabus eorum.

Der entstellte Wortlaut ist nicht einfach zu verstehen; offenbar sollten freie Frauen, die sich mit einem Unfreien verbanden, nicht in die Gewalt des Königs übergehen, sondern mitsamt ihren Kindern „diesen Langobarden“ gehören. In der Concessio generalis (BK 159), mit der Lothar 823 seinen italienischen Getreuen wichtige Privilegien zusicherte, findet sich eine Bestimmung, die inhaltlich diesem kryptischen Zusatzkapitel entspricht:

BK 159 c. 1: Ut cuiuscumque servus liberam feminam sibi ea consentiente in coniugio copulaverit et infra anni spatium ad vindictam traditi non fuerint, sicuti lex tales personas nostro fisco sotiat, ita nos nostra liberalitate concedimus, ut in potestate et servitio domini illius, cuius servus fuit, ambo revertantur.

Nach langobardischem Recht (Edictus Rothari 221, MGH LL 4 S. 53f. und Leges Liutprandi 24, MGH LL 4 S. 118) sollte nämlich nach dem Verstreichen einer einjährigen Frist, innerhalb derer das Paar getrennt und der Unfreie zur Bestrafung übergeben werden konnte, auch die Frau samt ihrer Nachkommen zu Unfreien werden und in den Besitz des Fiskus übergehen, wenn das Paar zusammenblieb. Lothar trat dieses Recht 823 an die Besitzer der Unfreien ab (die nach langobardischem Recht lebten und daher in der Kurzfassung des Zusatzkapitels in P5 als ipsos Langobardos bezeichnet werden konnten). Durch die Einordnung in diesen Rechtskontext wird aber nicht nur c. XIII verständlicher, sondern auch das darauffolgende c. XIIII:

[X]IIII. Statutum est, ut, si qua femina libera cum servum alterius se copulauerit et parentes eius eam anni spatium ad vindictam non dederit, volumus, ut curtis regia adquirat se ipsa femina cum ipso servum annu et diem steterit, habeat eam, cuius servo est, et filii, qui ex ea nati fuerint, sic servi sicut pater eorum.

Abb.: Zusatzkapitel [X]IIII zu BK 201 in P5 auf fol. 96v (© Gallica)

Auch hier ist der Wortlaut in P5 verderbt; doch in diesem Fall haben wir ein Korrektiv in Form einer Parallelüberlieferung: In der Fünf-Bücher-Sammlung, einer im frühen 11. Jahrhundert in Süd- oder Mittelitalien entstandenen Kirchenrechtssammlung, findet sich eine noch unverdorbene Fassung des Kapitels (ed. Koal 2001, S. 225):

Statutum est, ut, si qua femina libera cum servo alterius se copulaverit et parentes eius ante anni spatium de ea vindictam non dederint, nolumus ut curtis regis eos acquirat; sed si ipsa femina cum ipso servo anno et die steterit, habeat eam cuius servus est et filios, quos ex ea habuerit, ipsi servi sint illius cuius et pater eorum.

Diese Fassung ist eindeutiger und lässt leichter erkennen, dass es sich tatsächlich um eine inhaltlich mit dem vorangehenden Zusatzkapitel (und damit ebenfalls mit BK 159 c. 1) übereinstimmende Bestimmung handelt. Hier begegnet wiederum eine Spezialität des Kopisten von P5, die wir bereits kennengelernt haben: Er verunstaltete den Text nicht nur sprachlich, sondern verkehrte teilweise sogar dessen ursprünglichen Sinn in sein Gegenteil, indem er das nolumus, mit dem der Satz eingeleitet wird, in dem die langobardische Regelung außer Kraft gesetzt wird, in ein volumus verwandelte.

Mehrere Fragen schließen sich an diese Beobachtungen an. Zum einen die nach der Intention des Sammlers: Warum schloss er die Zusatzkapitel mit fortlaufender Zählung an das Capitulare Papiense an? Fand er diese Verbindung schon in seiner Vorlage vor, oder fügte er Auszüge aus anderen Kontexten bewusst an dieser Stelle ein, weil er sie thematisch passend fand?
Zum zweiten stellt sich die Frage nach dem Status der Zusatzkapitel: Deutet der veränderte Wortlaut auf eine Verfälschung hin? Das ist eher unwahrscheinlich, denn in der abweichenden Fassung in P5 ist keine inhaltliche Manipulation der vermutlich als Vorbild dienenden Bestimmungen erkennbar – einmal abgesehen von der Umkehrung der Verneinung. Für Umformungen des originalen Wortlautes eines Kapitulars ohne dolose Absicht gibt es zudem vergleichbare Fälle in Italien; beispielsweise das Kapitular von Herstal in der Forma langobardica, bei der es sich um eine spätere Bearbeitung des Textes für italienische Rezipienten handelt (Bougard 1995, S. 27f.). Oder haben wir es gar nicht mit einer Bearbeitung, sondern mit separat überlieferten Kapiteln verlorener Herrschererlasse zu tun? Das ist keine gänzlich abwegige Vermutung, denn in italienischen Kapitularienhandschriften finden sich öfters verstreute Einzelkapitel, die als authentisch anzusehen sind; ein Beispiel sind sind etwa die von Boretius als c. 15-18 der Memoria Olonnae comitibus data (BK 158) edierten Zusatzkapitel, die sich lediglich in einzelnen Handschriften an BK 158 angehängt finden. Im selben Kapitular werden übrigens in c. 1 und 2 auch Bestimmungen zur Heirat eines Paares mit ungleichem Status aus dem bereits erwähnten Capitulare Olonnense Lothars von 822/823 wieder aufgegriffen, und zwar ebenfalls nicht in wörtlicher, sondern in deutlich abweichender Formulierung! (BK 158 c. 1 und 2 entsprechen BK 157 c. 4 und 3.) Allerdings spricht zumindest der ungelenke Stil von c. XIII eher gegen einen authentischen Erlass.
Eine dritte Frage drängt sich angesichts der äußerst kreativen Textverunstaltungen des Schreibers von P5 auf: War dieser wirklich nur ein unfähiger „Banause“ oder nicht vielmehr ein besonders raffinierter „Querkopf“ (Glatthaar 2013a, S. 78), der sich mit seiner „ruinösen Reproduktion“ (Mordek 2004, S. 172) vielleicht sogar bewusst gegen die fränkische Herrschaft in Italien stellen wollte? Es hätte eine gewisse Ironie, dass ausgerechnet eine Handschrift, die die Gesetzgebung der Karolinger für Italien bewusst sabotieren wollte, durch den Überlieferungszufall zu einer der wichtigsten Quellen für ihre Erforschung geworden wäre.

B. Mischke


Zur Handschriftenseite von Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 4613 (Beschreibung und Transkription)


Literatur:

Bougard 1995
Koal 2001
Mordek 2004
Kaiser W 2007
Glatthaar 2013a
Breternitz 2022
Radding, Charles: The Recensio Walcausina of the Liber Papiensis (MGH LL nat. Germ. VII), mit Beiträgen von Antonio Ciaralli (im Druck; das Manuskript wurde freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt)

Empfohlene Zitierweise
Britta Mischke, Kapitel des Monats April 2023: Zusatzkapitel zu BK 201 in Paris, BNF, lat. 4613, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/kapitel-des-monats-april-2023-zusatzkapitel-zu-bk-201-in-paris-bnf-lat-4613/ (abgerufen am 21.12.2024)