Ein wichtiges Charakteristikum der karolingischen Rechtshandschriften ist, dass jede Sammlung in ihrer Zusammensetzung einzigartig ist. In der Regel haben die Schreiber auf Texte aus unterschiedlichen Vorlagen zurückgegriffen und neue Kombinationen von Rechtstexten geschaffen. Die Vorlagen hatten wohl meistens die Form gebundener Codices, manchmal waren es auch nur Pergamentzettel oder Rotuli. Es ist anzunehmen, dass sich in diesen Sammlungen die Interessen des Schreibers oder seines Auftraggebers niederschlagen. Auch wenn manchmal in mehreren Handschriften dieselben Texte in derselben Reihenfolge auftauchen, ist nicht gesagt, dass sich die Schreiber dieser Handschriften auch auf dieselbe Vorlage gestützt haben. Auch in diesen Fällen kommt es vor, dass Vorlagen aus ganz unterschiedlichen Überlieferungssträngen benutzt wurden. Bei der Herstellung einer kritischen Edition müssen daher für jeden Text aufs Neue die Zusammenhänge zwischen den Überlieferungen geklärt werden.
Um dieses Charakteristikum der Einzigartigkeit mit einem konkreten Beispiel zu erläutern, möchte ich eine Sammlung vorstellen, die in der Handschrift Paris, BN, Lat. 10758 enthalten ist. (Die Handschrift ist vollständig in Gallica digitalisiert.) Sie nimmt dort die Seiten 58-136 ein und ist daher nur ein Teil dieses großen Rechtskompendiums. Die anderen Teile interessieren an dieser Stelle nur insofern, als sich daraus erschließen lässt, dass die Handschrift in den letzten Lebensjahren des Erzbischofs Hinkmar von Reims (gest. 882) entstanden ist. Die Schreiber der Handschrift bedienen sich einer karolingischen Minuskel, wie sie im Reims dieser Zeit üblich war. Als Auftraggeber vermutet die Forschung den Erzbischof Hinkmar selbst.
Der uns interessierende Teil von Seite 58-136 ist aber in seiner Zusammensetzung älter und wurde ohne wesentliche Veränderungen in die Handschrift übertragen. Diese Sammlung datiert noch aus der Zeit Karls des Großen. Der letzte Text ist ein Kapitular Karls des Großen aus dem Jahr 807, welches an seine Missi („Königsboten“) in Neustrien (zwischen Seine und Loire) gerichtet war. Wir können daher annehmen, dass der Auftraggeber dieser Sammlung selbst ein Königsbote aus dieser Region war. Als Titel der Sammlung möchte ich deshalb „Collectio Neustrica“ vorschlagen.
Am Beginn der Collectio Neustrica steht ein Inhaltsverzeichnis, welches schon häufig abgedruckt und interpretiert, aber bislang immer missverstanden wurde. Was nämlich ursprünglich in zwei Spalten angeordnet war, hat der Schreiber aus Reims in eine Spalte zusammengeworfen.
Abb.: Paris, BN, Lat. 10758: Inhaltsverzeichnis auf S. 58 (© gallica.bnf.fr)
Erkennbar ist diese Verwirrung z.B. in der dritten Zeile, in der das Kapitel 3 und das Kapitel 17 der Sammlung einfach aufeinanderfolgen, als ob es sich um einen zusammengehörigen Eintrag handelt:
III. Decretio Chlotharii regis cap. XVII Lex suavorum
Wenn man diese Spalten wieder voneinander trennt, ergibt sich folgender Inhalt:
INCIPIUNT LIBELLI VEL DECRETIO CHLODEVEO ET CHILDEBERTO SIVE CHLOTHARIO ET KAROLO FUIT LUCIDE EMENDATUM
I. De legibus divinis et humanis
II. Pactus Childeberti regis
III. Decretio Chlotharii regis
IIII. Decretum Childeberti regis
V. De reliquis conditionibus
VI. Decretio Karoli regis id sunt capitula XXIIII
VII. De septem septinas
VIII. Sciendum est quod in quibusdam
VIIII. Decretum est ut qui in vigilias
X. De tractatu legis salicae
XI. Prolegis salicae
XII. De homicidiis clericorum id sunt capitula XI
XIII. Ut nullus praesumat hominem inde sunt capitula VI
XIIII. De mannire inde sunt capitula LXX
XV. Lex ribuariorum inde sunt capitula XCI
XVI. Lex alamannorum inde sunt capitula XCVIII
Cap. XVII. Lex suavorum. De eo qui hominem nobilem plagaverunt id sunt capitula XVII
Cap. XVIII. Memoratio de octo bannos id sunt capitula VIII
Cap. XVIIII. Iussio domni Karoli qualiter ordinavit propter famis inopiam id sunt capitula IIII
Wie man sieht, sind in der Collectio Neustrica Edikte der Merowinger, Kapitularien Karls des Großen und Rechtsbücher der Franken und Alemannen zusammengestellt worden. Eine Identifikation der Texte hat Hubert Mordek vorgenommen. Was sich hinter der mysteriösen, sonst nicht bezeugten Lex Suavorum verbirgt, habe ich an anderer Stelle zu klären versucht. Das Rechtsbuch der Schwaben ist nur im Inhaltsverzeichnis bezeugt, weil die Sammlung selbst nach Kapitel 14 abbricht. Hier möchte ich nicht auf die Zusammenstellung an sich eingehen (die auch eine genauere Untersuchung verdient), sondern nur die Komplexität der benutzten Vorlagen hervorheben. Ich stütze mich dabei auf Vorarbeiten von Ernest-Joseph Tardif, Wilhelm August Eckhardt, Hubert Mordek, Michael Glatthaar sowie auf eigene Studien. In der linken Spalte steht die Nummerierung im Inhaltsverzeichnis, in der Mitte der Text mit dem heute gebräuchlichen Titel und in der rechten Spalte diejenigen Handschriften, die einen ähnlichen bzw. verwandten Wortlaut dieser Texte überliefern. Da die Sammlung ab Kapitel 15 abbricht und der Wortlaut deshalb nicht überliefert ist, können für diese Teile keine Parallelhandschriften genannt werden.
Cap. I | Isidor, Etymologiae | Paris, BN, Lat. 4626; Paris, BN, Lat. 4995 |
Cap. II-Cap. III | Pactus pro tenore pacis (Childebert I. und Chlothar I.) | Paris, BN, Lat. 18237; Leiden, Bib. d. Rijksuniv., BPL 2005; Vatikan, BAV, Reg. lat. 520 |
Cap. IIII-Cap. V | Decretio Childeberti II. | Paris, BN, Lat. 18237; Vatikan, BAV, Reg. lat. 520 |
Cap. VI | Capitulare Haristallense (Karl d. Gr.) | Gotha, Forschungsbib., Mem. I 84; Nürnberg, Stadtbib., Cent. V, App. 96 |
Cap. VII | Septem septinas | Paris, BN, Lat. 4411 |
Cap. VIII | Recapitulatio solidorum | Cologny, Bib. Bodmeriana, 107 und St. Petersburg, Q.v.II.11 |
Cap. VIIII | Pactus pro tenore pacis | Bonn, Universitätsbib., S. 402 und Vatikan, BAV, Reg. lat. 1036 |
Cap. X | Langer Prolog zur Lex Salica | Bonn, Universitätsbib., S. 402 und Vatikan, BAV, Reg. lat. 1036 |
Cap. XI | Kurzer Prolog zur Lex Salica | Bonn, Universitätsbib., S. 402 und Vatikan, BAV, Reg. lat. 1036 |
Cap. XII | Capitulare legibus additum (Karl d. Gr.) | [keine Vorarbeiten] |
Cap. XIII | Capitulare missorum (Karl d. Gr.) | [keine Vorarbeiten] |
Cap. XIIII | Lex Salica | Bern, Burgerbibliothek, Cod. 442; Bonn, Universitätsbib., S. 402; Vatikan, BAV, Reg. lat. 1036; Bamberg, Staatsbib., Jur. 35 |
Cap. XV | Lex Ribuaria | [Text ist nicht überliefert] |
Cap. XVI | Lex Alamannorum | [Text ist nicht überliefert] |
Cap. XVII | Lex Suavorum | [Text ist nicht überliefert] |
Cap. XVIII | Summula de bannis
(Karl d. Gr.) |
[Text ist nicht überliefert]
[das Kapitular ist nur aus Bamberg, Staatsbib., Jur. 35 bekannt] |
Cap. XVIIII | Memoratorium de exercitu
(Karl d. Gr.) |
[Text ist nicht überliefert]
[das Kapitular ist nur aus Paris, BN, Lat. 9654; Vatikan, BAV, Pal. 582 bekannt] |
Aus dieser Tabelle ist ersichtlich, dass für einige Texte noch keine überlieferungsgeschichtlichen Studien vorliegen und daher eine Einordnung nicht möglich ist. Es wird aber auch beim jetzigen Stand der Forschung schon deutlich, wie einzigartig die Collectio Neustrica in ihrer Zusammenstellung von Rechtstexten ist. Es gibt keine andere Sammlung, die auch nur annähernd vergleichbar wäre. Der Autor der Collectio interessierte sich für merowingische Edikte und Kapitularien Karls des Großen und sammelte zudem eine Reihe von erklärenden Texten zur Lex Salica, die in dieser Anzahl sonst nicht vorhanden sind. Dabei bediente er sich unterschiedlicher Vorlagen, die auch durch andere Sammlungen bezeugt sind. Dass der Pactus pro tenore pacis zweimal aufgenommen wurde, liegt daran, dass er in zwei reichlich verschiedenen Fassungen verwendet wurde und dem Schreiber zunächst nicht bewusst war, dass es sich um dasselbe Edikt handelt. Am häufigsten tauchen die beiden eng verwandten Handschriften Bonn, Universitätsbib., S. 402 und Vatikan, BAV, Reg. lat. 1036 auf. Beide sind weit später geschrieben (12. und 15. Jahrhundert), gehen aber wohl ebenfalls auf eine Vorlage aus der Zeit Karls des Großen zurück. Daneben sind sehr seltene Texte überliefert: die Lex Suavorum ist ein Unikat und zwei weitere Stücke (Summula de bannis sowie die Septem Septinas) sind jeweils nur in einer anderen Handschrift bezeugt. Die Collectio Neustrica ist somit ein bedeutendes Zeugnis für die Rechtskultur der Zeit Karls des Großen.
K. Ubl
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur
Tardif 1895
Eckhardt 1967
Mordek 1995
Ubl 2016
Woll I 1995, S. 271-275