Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats November 2021: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1062 Helmst.

Wer einen Text neu ediert, steht zum einen vor der Frage, welche Textzeugen es überhaupt gibt, und zum anderen, welche davon herangezogen werden müssen oder sollen, um den Editionstext zu konstituieren. Dabei ergeben sich – natürlich je nach Überlieferungslage – grob zwei Lager: die „direkten“ Textzeugen, also jene Handschriften, die den zu edierenden Text so überliefern, dass er als „originale“ Überlieferung gewertet werden kann, und die „indirekten“ Zeugen, die einen Text beispielsweise nur auszugweise und in einem komplett anderen Zusammenhang überliefern. Ein Beispiel hierfür wäre ein Kapitel eines Kapitulars in einer hochmittelalterlichen Kirchenrechtssammlung, womit man bereits beim weiten Feld der Rezeption angelangt wäre. Die Übergänge können dabei aber fließend sein.

Ein Textzeuge, der bisher so gut wie gar nicht im Fokus der Kapitularienforschung stand, ist Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1062 Helmst., mit dem sich zuletzt ausführlicher Abigail Firey beschäftigt hat (Firey 2015, siehe auch von Heinemann 1888, S. 35–36). Dieser kirchenrechtliche Codex, der hauptsächlich die Collectio Dacheriana tradiert (foll. 19r–217v; Kéry 1999, S. 90) und den Hubert Mordek in seiner Bibliotheca capitularium unerwähnt lässt, stammt aus dem 10. Jahrhundert und wurde womöglich von Abbo von Fleury benutzt (Roumy 2008, S. 327–328; Firey 2015, S. 213 und S. 221–227 mit detaillierteren Ausführungen zur Provenienz des Codex und zu den Verbindungen zu den Kontroversen um Gottschalk von Orbais). Vor der Collectio Dacheriana steht eine weitere kirchenrechtliche Sammlung (foll. 3r–18v), die bisher nur von Firey eingehender untersucht worden ist. Sie betitelt sie als „Sententiae de monachis“, da sie bislang keine Bezeichnung in der Forschung hatte. Diese Sammlung, die auch kodikologisch eine eigene Einheit bildet, beginnt auf fol. 3r mit einem Exzerpt aus der römischrechtlichen Epitome Aegidii. Dabei werden nur Teilsätze von Titeln aus dem ersten Buch des Codex Theodosianus geboten, weshalb es passenderweise mit DEFLORATIO SENTENCIARUM THEODOSIANAE LEGIS überschrieben ist. Diese kleine Sammlung ist dem folgenden Kirchenrecht vorgeschaltet (Trump 2021, S. 202–204; Firey 2015, S. 215–216, Abb. S. 216).

Die kirchenrechtliche Sammlung wurde von Firey als Incipit/Explicit-Edition herausgegeben (Firey 2015, S. 229–243), während sich eine vollständige Transkription bei unserem Kooperationspartner „Carolingian Canon Law Project“ findet. Sie ist mit einer längeren Überschrift in Majuskeln versehen, die über dem Schriftspiegel steht und darauf hinweist, dass die Sammlung am Ende des Codex weitergeht (foll. 218r–224r [überwiegend gleiche Hand]; hierzu Firey 2015, S. 218–221), den Namen „Liber canonum“ trägt, aus unterschiedlichen Konzilien und Kirchenvätern schöpft und thematisch vornehmlich Bischöfe, Äbte, Mönche und deren Klöster behandelt. Die Sammlung besteht laut Firey aus 92 Kapiteln, die nicht durchnummeriert sind, aber die Zählung ihrer Quellen bewahren (Firey 2015, S. 215–218, Abb. S. 217). Überblickt man die Kapitel, dann fasst die Überschrift den thematischen Schwerpunkt tatsächlich sehr gut zusammen. Diese Collectio canonum vermischt dabei Texte unterschiedlichster Quellen, vor allem römisches Recht und Kirchenrecht. Das römische Recht wird durch zahlreiche Auszüge aus der Epitome Iuliani repräsentiert, die die justinianische Novellengesetzgebung bietet und im frühmittelalterlichen Frankenreich weit verbreitet war. Neben verschiedenen Konzilstexten und Papstbriefen finden sich wenige Auszüge aus karolingischen Kapitularien und Synoden unter den Texten (Firey 2015, S. 233–234). Auf foll. 7r­–v stehen – leicht bearbeitete – Auszüge aus dem Capitulare seu canones concilii Vernensis (BK 14), nämlich cc. 5, 10–11 und 20 (Boretius 1883, S. 34–36). Alle Kapitel haben gemeinsam, dass dort immer wieder auf Personengruppen eingegangen wird, die regelgeleitet („regulariter“) leben bzw. leben sollen. Kapitel 5 schärft dies dabei für Klöster ein und setzt fest, wie zu verfahren ist, wenn dies nicht der Fall ist. Kapitel 10–11 und 20 gehen auf verschiedene Spezialfälle ein: c. 10 auf die sogenannte stabilitas loci und was passiert, wenn das Kloster aus bestimmten Gründen verlassen werden muss, c. 11 auf diejenigen, die tonsuriert sind und Vermögen besitzen, aber nicht regelgeleitet leben, und c. 20 geht darauf ein, wem gegenüber Klöster, deren Bewohner regelgeleitet leben, rechenschaftspflichtig sind. Nach den wenigen Bestimmungen von Ver folgt unmittelbar ein Kapitel (c. 3) des Konzils von Soissons von 744 (BK 12; Boretius 1883, S. 29). Die jüngsten karolingischen Stücke finden sich dann im hinteren Teil der Handschrift (fol. 219r), u.a. zwei Kapitel des Konzils von Meaux-Paris von 845 (BK 293) und ein Kapitel des Konzils von Savonnières des Jahres 859 (BK 299), die Boretius und Krause noch in ihre Kapitularienedition aufgenommen haben, die aber nicht mehr Teil der Neuedition sein werden, da Wilfried Hartmann sie in der Concilia-Reihe der MGH bereits neu ediert hat (MGH Conc. 3).

Der Wolfenbütteler Codex präsentiert eine vielgestaltige Sammlung von Texten unterschiedlichster rechtlicher Provenienz. Er steht damit stellvertretend für die vielen frühmittelalterlichen Rechtshandschriften, die Texte aus verschiedenen Kontexten sammelten und zu etwas Neuem verbanden. Editorisch kann man die Handschrift als wertvollen Zeugen der Rezeption karolingischer Kapitularien werten, wie man an BK 14 sehen konnte. Wenn man bedenkt, dass viele Kirchenrechtssammlungen noch nicht tiefergehend erschlossen sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass noch weitere Rezeptionen von Kapitularien in Zukunft neu aufgefunden werden.

Dominik Trump


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Literatur

Boretius 1883
Otto von Heinemann, Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Abth. 1: Die Helmstedter Handschriften Bd. 3, Wolfenbüttel 1888.
Kéry 1999
Roumy 2008
Firey 2015
Trump 2021

Empfohlene Zitierweise
Dominik Trump, Handschrift des Monats November 2021: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1062 Helmst., in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-november-2021/ (abgerufen am 05.11.2024)