Der im 10./11. Jahrhundert in Alemannien, wahrscheinlich in St. Gallen entstandene Rechtscodex wird eröffnet durch den für die Region zentralen Rechtstext, die Lex Alamannorum. Es folgen die Kapitulariensammlung des Ansegis und weitere Exzerpte aus Rechtstexten, vor allem aus dem römischen Recht.
Im letzten Teil der Sammelhandschrift, auf den foll. 173r-199v, finden sich zwei Listen mit Kapitularienauszügen, die jeweils von einem Kapitelverzeichnis eingeleitet werden und hauptsächlich aus der Collectio Ansegisi zusammengestellt wurden. Doch die beiden Listen zeigen auch deutliche Spuren einer von Ansegis unabhängigen Überlieferung der entsprechenden Kapitularien. Bei näherer Betrachtung fallen sie auch anderweitig aus dem Rahmen, den der vorangehende Teil der Rechtshandschrift vorgibt.
Die Konzeption der Handschrift ist insgesamt recht einheitlich und klar. Den verschiedenen Rechtstexten sind regelmäßig Kapitelverzeichnisse vorgeschaltet, die mit roter Tinte durchnummeriert wurden. Die ausgeschriebenen Kapitel erhielten damit korrespondierende Nummern und/oder Rubriken mit kurzen Inhaltsangaben in roter Tinte, sodass die Sammlung für eine systematische Benutzung gut geeignet scheint.
Abb.: Stuttgart, WLB, Cod. iur. 4° 134, fol. 34r und 41v, Beginn des Kapitelverzeichnisses von Ansegis, Buch 1 und Text von Ansegis 1, 13-17 (© Württembergische Landesbibliothek Stuttgart).
Dieses Muster wird jedoch bei den beiden Listen auf foll. 173r ff. durchbrochen. Zwar gibt es auch hier jeweils ein Kapitelverzeichnis, das jedoch nicht durchnummeriert wurde. Der folgende Text der Kapitel wurde zwar mit Rubriken und Kapitelzahlen in roter Tinte versehen, aber ohne eine einheitliche Systematik. So weichen die Rubriken im Text gelegentlich von denen des Kapitelverzeichnisses ab und die Kapitel sind nicht numerisch durchgezählt, sondern entsprechen in den meisten Fällen der Zählung in der Sammlung des Ansegis, der sie entnommen wurden. So folgt z.B. in der zweiten Liste auf foll. 191r-v auf das Kapitel LXX (= Ansegis 4, 70) ein als LXVII gezähltes Kapitel (= Ansegis 3, 67).
Eine mit der Stuttgarter Handschrift verwandte Überlieferung dieser Listen ist durch einen frühneuzeitlichen Druck von Johannes Herold (Originum ac Germanicarum Antiquitatum Libri … ) erhalten. Herold druckt die beiden Listen ebenfalls, aber ohne die vorangehenden Kapitelverzeichnisse. Ein Vergleich mit diesem Druck zeigt einige aufschlussreiche Abweichungen zur Stuttgarter Handschrift.
Die erste Liste (foll. 173v-183r) besteht im Wesentlichen aus den Capitula legibus addenda Ludwigs des Frommen von 818/19 (BK 139), in die zwischen BK 139 cc. 2 und 3 ein Kapitular Karls des Großen (Capitulare missorum de exercitu promovendo, Anfang 808 = BK 50) eingeschoben wurde. Wie es zu diesem Einschub kam, ist unklar; wahrscheinlich ist er das Resultat eines Versehens beim Kopieren. Da die ersten beiden Kapitel vor dem Einschub, wie bereits Schmitz gezeigt hat, auf eine Überlieferung des Original-Kapitulars BK 139 zurückgehen, während die restlichen Kapitel nach diesem Einschub Ansegis folgen, ist ein Wechsel der Vorlage an dieser Stelle anzunehmen.
Bei dieser Liste gibt Herold für die ersten beiden Kapitel die Rubriken des Original-Kapitulars wieder, wie sie auch im Kapitelverzeichnis der Stuttgarter Handschrift erscheinen. Dagegen wurden in der Handschrift bei den ausgeschriebenen Kapiteln Rubriken gewählt, die von denen des Kapitelverzeichnisses abweichen. Die Rubrik des ersten Kapitels stammt sicher, die des zweiten wahrscheinlich aus der Kapitulariensammlung des Benedictus Levita (1, 230 und 231). Und die cc. XXIII und XXIIII (= BK 139 cc. 12 und 13 bzw. Ansegis 4, 23 und 24) sind zwar mit Ansegis-Rubriken überschrieben, aber nicht mit denjenigen von Buch 4, 23 und 24, sondern von Buch 4, 73 und 74. Dies verrät nach Schmitz eine sehr gute Kenntnis des Ansegis, denn tatsächlich stimmt der Inhalt von Ansegis 4, 23 und 24 mit dem von 73 und 74 im Wesentlichen überein; letztere entsprechen cc. 4 und 5 der Capitula legibus addita Ludwigs des Frommen von 816 (= BK 134), die in den Capitula legibus addenda von 818/19 wieder aufgegriffen und in leicht veränderter Fassung erneut verabschiedet wurden. Offenbar erschienen die Rubriken, die Ansegis für die älteren Kapitel verwendet hatte, dem Rubrikator als passendere Überschriften.
Die Übereinstimmung von Herolds Textversion mit dem Kapitelverzeichnis der Stuttgarter Handschrift lässt darauf schließen, dass die abweichenden Rubriken bei den ausgeschriebenen Kapiteln der Handschrift am ehesten als eine Zutat des Schreibers, oder wahrscheinlicher: des Rubrikators anzusehen sind. Der Schreiber beabsichtigte nämlich offensichtlich eine andere Textgliederung als die tatsächlich ausgeführte, weil er Platz für die Rubriken an Stellen ließ, die der Rubrikator ignorierte; z.B. in der ersten Zeile über dem Kapitelverzeichnis, wo man eine Überschrift erwarten würde (etwa Incipiunt capitula etc., wie im o.g. Beispiel bei Ansegis, Buch 1).
Abb.: Stuttgart, WLB, Cod. iur. 4° 134, fol. 173r: Kapitelverzeichnis ohne Rubrik (dafür erste Zeile freigelassen) und Nummerierung (© Württembergische Landesbibliothek Stuttgart)
Nach dem Ende des Kapitelverzeichnisses ließ er einen Platz von fünf Zeilen frei, der vom Rubrikator nur zu weniger als der Hälfte mit der Rubrik des ersten Kapitels beschrieben wurde. Wahrscheinlich enthielt die Vorlage des Schreibers noch die Überschrift des Gesamtkapitulars BK 139, wie sie der Druck von Herold überliefert (Incipiunt capitula quae legibus addenda sunt, quae et missi et comites habere et ceteris nota facere debent).
Abb.: Stuttgart, WLB, Cod. iur. 4° 134, fol. 173v: Rubrik zu c. 1 (DE HOMICIDIIS in ecclesiis uel in atriis earum perpetratis = Rubrik zu Benedictus Levita 1, 230), mit freigelassenem Raum für mehr Text (Überschrift des Gesamtkapitulars BK 139?) (© Württembergische Landesbibliothek Stuttgart)
Und auch zu Beginn der eigenständigen Kapitelliste BK 50 ließ er zwei Zeilen, wohl für die Überschrift des Kapitulars, frei – doch dieser eigentlich unübersehbare Leerraum wurde vom Rubrikator nicht ausgefüllt.
Abb.: Stuttgart, WLB, Cod. iur. 4° 134, fol. 174v: Beginn von BK 50 mit freigelassenem Platz für die Überschrift des Kapitulars (© Württembergische Landesbibliothek Stuttgart)
Stattdessen wurde die Überschrift von BK 50 in den Rest der freigebliebenen dritten Zeile von fol. 176v gezwängt (und mit der Kapitelzählung III versehen), vor das in eins zusammengefasste c. 7/8, wo eigentlich kein Platz dafür vorgesehen war.
Abb.: Stuttgart, WLB, Cod. iur. 4° 134, fol. 176v: Überschrift von BK 50 (Breuis capitulorum quam missi dominici promouere [sic statt habere] debent ad exercitum promouendum), hier mit der Zählung III wie eine Kapitelrubrik zu BK 50 cc. 7/8 platziert (© Württembergische Landesbibliothek Stuttgart)
Möglicherweise stand dem Rubrikator, der in einem zweiten Arbeitsdurchgang die Zählung und Rubriken mit roter Tinte ergänzen sollte, die ursprüngliche Vorlage des Schreibers nicht mehr zur Verfügung (falls es überhaupt nur eine und nicht mehrere waren). Und das Kapitelverzeichnis war dabei auch keine rechte Hilfe, denn es enthält deutlich weniger Rubriken als Kapitel, wenn man sich an der Einteilung des Textes in Absätze orientiert. Die ersten drei Einträge des Kapitelverzeichnisses beziehen sich auf elf Textabschnitte: BK 139 c. 1 ist auf zwei Absätze verteilt, c. 2 auf einen, BK 50 auf acht. Daher scheint der Rubrikator die Kapiteltexte mithilfe anderer ihm zur Verfügung stehender Texte verglichen und identifiziert zu haben. Die Sammlung des Ansegis ist ja sogar im selben Codex, auf foll. 34r-136v, überliefert.
Warum die ersten beiden Kapitel allerdings mit Rubriken von Benedictus Levita anstatt von Ansegis versehen wurden, ist schwer erklärbar – Benedictus‘ Text hat sowohl gegenüber dem Text des Originalkapitulars als auch gegenüber dem des Ansegis einige Auslassungen (in Benedictus Levita 1, 230 fehlt z.B. gegenüber BK 139 c. 1/Ansegis 4, 13 der Passus per sacramentum adfirmet – bannum nostrum solvere), sodass sich die Wahl nicht durch einen besonders gründlichen Textabgleich erklären lässt.
Bei der zweiten Kapitelliste (ab fol. 185r, wiederum Beginn einer neuen Lage) scheint es ebenfalls Identifizierungsprobleme gegeben zu haben, denn auch hier wird das auf foll. 183v-185r vorangehende Kapitelverzeichnis nicht gezählt – erst nachträglich sind mindestens zwei Anläufe dazu unternommen worden: Hinter den ersten fünf Einträgen lassen sich noch Spuren von radierten Zahlen erkennen, und eine andere Hand hat in dunkelbrauner Tinte die ersten 20 Kapitel nummeriert, bevor die Zählung abbricht (das 21. Kapitel wurde aus unerfindlichen Gründen in hellerer Tinte zunächst mit XXI bezeichnet, das erste X aber wieder getilgt).
Abb.: Stuttgart, WLB, Cod. iur. 4° 134, fol. 183r-v: Beginn des Kapitelverzeichnisses zur zweiten Kapitelliste (ab fol. 185r), ursprünglich unnummeriert, nachträglich bis c. XX bzw. [X]XI gezählt, danach bricht die Zählung ab (© Württembergische Landesbibliothek Stuttgart)
Die Zählung der ausgeschriebenen Kapitel beginnt mit cap. primum und II, bevor sie ab dem dritten Kapitel wiederum auf die Zählung nach Ansegis (dieses Mal Auszüge aus dem dritten Buch, beginnend mit XXXVI = Ansegis 3, 36) springt, die dann bis zum Schluss durchgehalten wird. Auch bei der zweiten Kapitelliste finden sich Abweichungen zwischen den Rubriken des Kapitelverzeichnisses und denen der ausgeschriebenen Kapitel, und auch hier sind offenbar neben Ansegis weitere Textvorlagen benutzt worden (vgl. dazu im Detail Schmitz G 1996, S. 346-348).
Solche Störungen in der Kapitelzählung oder Diskrepanzen zwischen einem Kapitelverzeichnis und dem Text, auf den es sich beziehen sollte, begegnen oft in Kapitularienhandschriften. Im vorliegenden Fall sind die Abweichungen wohl damit zu erklären, dass Schreiber und Rubrikator in zwei separaten Arbeitsschritten arbeiteten und der Rubrikator nicht mehr auf dieselben Informationen zugreifen konnte, die dem Schreiber zur Verfügung standen.
Interessant hierbei ist, dass die vom Kapitelverzeichnis abweichenden Rubriken nicht etwa frei formuliert, sondern wohl durchdacht aus anderen, offenbar am Ort vorhandenen Quellen zusammengestellt wurden. Die mit der Herstellung der Handschrift befassten Skriptoriumsmitarbeiter hatten also offenbar eine Auswahl von unterschiedlichen Fassungen der Kapitularientexte zur Verfügung. Und dies könnte sehr gut auf St. Gallen, das als Entstehungsort der Handschrift vorgeschlagen wurde, zutreffen; wissen wir doch, dass sich in dessen Bibliothek Rechtshandschriften mit einschlägigem Inhalt befunden haben, wie z.B. der Codex St. Gallen 727, der Kopien der Sammlungen sowohl des Ansegis wie auch des Benedictus Levita enthält.
B. Mischke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Herold 1557, S. 319-324
Mordek 1995, S. 724-728
Schmitz G 1996, S. 153-155, 210 f., 340-357, 391-398
Seckel 1906, S. 95