Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats August 2017: Paris, BN, Lat. 10754

Lex Salica, Kapitularien und biblisches Recht

Die moderne Forschung hat sich seit längerer Zeit von einem „legalistischen“ Verständnis der karolingischen Kapitularien verabschiedet, wie es das Buch von François Louis Ganshof (Ganshof 1961) repräsentiert. Die Definition von Ganshof, Kapitularien seien „Maßnahmen der Gesetzgebung oder der Verwaltung“ (Ganshof 1961, S. 13), wird der Vielfalt der Kapitularien und ihrer religiösen, moralischen und erzieherischen Ausrichtung nicht gerecht. Wilfried Hartmann hat die Kritik an Ganshof folgendermaßen formuliert: „Hier ist das Zentrum von Karls Gesetzgebung zu suchen, also in der Absicht, die göttlichen Gebote unmittelbar zu gültigem Recht in seinem Reich zu machen. Das sittliche Verhalten eines jeden Bewohners des Frankenreichs sollte an der Richtschnur der Bibel ausgerichtet werden“ (Hartmann 1997, S. 183). Bestes Zeugnis für diese These ist die berühmte Admonitio generalis Karls des Großen (BK 22), in der aus dem Alten und Neuen Testament Vorschriften für die eigene Gegenwart gewonnen werden.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht befremdlich, wenn in der Handschrift Paris, BN, lat. 10754 nach der Lex Salica und einigen Kapitularien ein Florilegium aus vorwiegend biblischen Quellen folgt. Das Florilegium äußert sich zu Themen wie Tötung, Unzucht, Meineid, Diebstahl und Trunkenheit, die auch in der Admonitio generalis (BK 22) oder im Capitulare missorum generale (BK 33) begegnen und mit ähnlicher erzieherischer Intention abgehandelt werden.

Dies sind die Abschnitte des Florilegiums:

[1] DE DIVITIBUS
[2] DE HOMICIDIIS
[3] DE FORNICATORIBUS
[4] DE PERIURIIS
[5] DE FURTIS
[6] DE EBRIETATE ET COMMESSATIONE
[7] DE IRA
[8] DE MISERICORDIA
[9] DE DETRACTIONE
[10] DE CARITATE
[11] DE NON REDDENDO MALUM PRO MALO
[12] DE CARITATE
[13] DE UMILITATE
[14] DE AMITITIA ET INIMITITIE

 


Abb.: Paris, BN, lat. 10754, fol. 79v (© Gallica).

Bei dieser Übersicht fällt auf, dass das Thema der Nächstenliebe zweimal auftaucht (c. 10 und c. 12). Grund dafür ist nicht ein Missgeschick des Kompilators, sondern die Tatsache, dass nur die ersten 11 Kapitel eigenständig zusammengestellt wurden, während es sich bei den letzten drei Abschnitten um wörtliche Übernahmen aus dem merowingischen Florilegium Liber scintillarum handelt. Von den insgesamt 81 Abschnitten des Liber scintillarum kopierte der Schreiber von lat. 10754 die Nummern 1, 4 und 64. Die beiden Kapitel über Nächstenliebe enthalten also unterschiedliches Material. Für die Karolingerzeit sind die ersten 11 Kapitel von großem Interesse, da sie als eine eigenständige Ergänzung zu den Rechtstexten gedacht waren. Der Kompilator bezieht sich vorwiegend auf die Bibel; vereinzelte Zitate stammen aus Isidor von Sevilla, der Regula Benedicti, Caesarius von Arles, Cassiodor und dem Kirchenrecht. Eine Edition steht auf der Bibliotheca legum-Seite zur Verfügung.

Abb.: Paris, BN, lat. 10754, fol. 1r (© Gallica).

Was wissen wir über die Herkunft der Handschrift? Der erste Besitzvermerk der Handschrift datiert aus dem 16. Jahrhundert und bezeugt den Besitz der Bibliothek der Jesuiten in Reims. Später kam die Handschrift in das Pariser Jesuitenkolleg Clermont und von dort in die königliche Bibliothek. Über die mittelalterliche Provenienz des Codex ist dagegen nichts bekannt. Bernhard Bischoff ordnet die Handschrift dem letzten Drittel des 9. Jahrhunderts zu und vermutet eine nordostfranzösische Schriftheimat (Bischoff 2014, S. 167). Die Textgeschichte der einzelnen Teile der Handschrift liefert weitere Indizien für diese Hypothese. Die Lex Salica am Beginn der Handschrift teilt einige signifikante Lesarten mit der Handschrift London, BL, Add. 22398 (Provenienz: Arras). Nach der Lex Salica folgt das Capitulare legibus addendum (BK 39) mit einem charakteristischen Incipit, welches vorwiegend (aber nicht ausschließlich) in nordostfranzösischen Handschriften begegnet. Die nächsten Texte in der Handschrift, die Kapitularien von Diedenhofen (BK 43 und 44), wurden unlängst von Michael Glatthaar untersucht, der eine enge Verwandtschaft mit der Handschrift Wolfenbüttel, HAB, Aug. 4° 50.2 (Provenienz: Weißenburg; Schriftheimat: Nordostfrankreich) feststellt (Glatthaar 2013, S. 448).

Die Handschrift ist somit ein Zeugnis dafür, dass am Ende des 9. Jahrhunderts ein Kompendium des fränkisch-karolingischen Rechts aus der Zeit Karls des Großen abgeschrieben und durch ein biblisches Florilegium ergänzt wurde. Kapitularien und Bibel sollten sich wechselseitig beleuchten.

K. Ubl


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:
Bischoff 2014
Ganshof 1961
Glatthaar 2013
Hartmann W 1997
Mordek 1995, S. 585-587

Empfohlene Zitierweise
Karl Ubl, Handschrift des Monats August 2017: Paris, BN, Lat. 10754, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-august-2017/ (abgerufen am 22.12.2024)