Nur wenige Rechtshandschriften mit Kapitularien sind mit begleitenden Illustrationen ausgestattet. Eine dieser Ausnahmen bildet der um 1005 in Süditalien entstandene Codex Cava de’ Tirreni, Biblioteca della Badia, 4. Die in einer schönen und gleichmäßigen Beneventana gehaltene Handschrift bietet vor allem langobardisches und beneventanisches Recht, gefolgt von einer am Ende verstümmelten Sammlung fränkischer Kapitularien, die wohl zuerst im frühen 9. Jahrhundert erstellt wurde.
Beide Teile sind grob nach Gesetzgebern strukturiert, wobei der Beginn eines neuen Abschnitts im Falle der Kapitularien offenbar stets mit einer Miniatur des jeweiligen Herrschers eingeleitet wurde. Leider ist das Blatt mit Karl dem Großen (nach fol. 197) verloren, mutmaßlich das Opfer eines Sammlers, der zuvor bereits die Miniaturen der Könige Liutprand (nach fol. 78) und Aistulf (nach fol. 158) ausgeschnitten hatte.
Erhalten sind dagegen je eine Miniatur Ludwigs des Frommen (fol. 220v) und Pippins von Italien (fol. 232r), sowie gleich zwei Lothars I. (fol. 238r und 241r). Die Kapitulariensammlung selbst entstand wie bereits angedeutet möglicherweise bald nach 832 in Pavia, d.h. in der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Aufstand der Söhne Ludwigs des Frommen gegen ihren Vater. Darauf weist jedenfalls das jüngste Stück der Sammlung hin, das 832 erlassene BK 201 Lothars I., das allerdings nur in der unverstümmelten Kopie dieser Sammlung in der Handschrift Vatikan, BAV, Chigi F.IV.75 enthalten ist. Da letztere keinerlei Miniaturen enthält, handelt es sich bei diesen offenbar um eine Zutat des 11. Jahrhunderts, was auch erklären mag, dass sowohl Ludwig der Fromme wie Lothar jeweils nur als rex tituliert sind, im Einklang mit den übrigen Abbildungen italienischer Herrscher im Codex:
Abb. Cava, BdB, 4, fol. 220v und 238r: Ludwig der Fromme und Lothar I. als Gesetzgeber (© Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava).
Der große Wert, der auf die farbenprächtige Ausgestaltung der Handschrift mit Miniaturen gelegt wurde, setzt sich auch im Schriftbild fort. Der Kopist schrieb eine höchst gleichmäßige, geradezu vorbildliche Beneventana mit nur sehr wenigen Korrekturen. Letzteres allerdings verdankt sich nicht der Sorgfalt des Schreibers, sondern im Gegenteil seiner absoluten Gleichgültigkeit gegenüber dem Text. Die in der gemeinsamen Vorlage der beiden Handschriften von Cava und Chigi noch vorhandenen Rubriken und Kapitelnummerierungen sind im Cavensis nahezu komplett ausgelassen.
So kann es passieren, dass der Sinn einzelner Kapitel schlicht nicht mehr auszumachen ist, sofern der entscheidende Sachverhalt allein in der Rubrik genannt war, während im Text selbst nur noch mittels Pronomen darauf Rückbezug genommen wurde. Beispielsweise ist für einen Nutzer des Cavensis auf fol. 231r nicht ersichtlich, dass sich hinter „diesen“ (illas) in den – nicht ohne Fehler kopierten – Bestimmungen von Kapitel 7 aus BK 140 neu angelegte Forste verbergen, wie eben nur die übersprungene Rubrik (De forestibus noviter institutis) erläutert:
Abb.: Cava, BdB, 4, fol. 231r (BK 140 c. 7): „Ut quicumque illas habent dimittat nisi fortes iudici ostendere possit quod per iussionem domni Karoli genitori nostri eam [richtig: eas] instituisset preter illas que nostra opus pertinunt unde nos decernere uolumus quicquid nobis placuerit“ (© Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava).
Immerhin demonstriert dieser Fall anschaulich, dass zumindest manche Kapitularien von Beginn an mit Rubriken ausgestattet waren. Denn es ist kaum zu vermuten, dass ein späterer Sammler, der einem Kapitel eine zusätzliche Rubrik zur leichteren Übersicht beigab, sich im Anschluss noch die Mühe gemacht haben sollte, jede weitere Benennung des Sachverhalts im Text des Kapitels zu tilgen und durch Rückbezüge auf die Rubrik zu ersetzen.
Eine stete Abfolge von kleineren Fehlern, Auslassungen und Verlesungen kann selbst eine recht einfache Bestimmung zur Höhe der Buße für denjenigen, der gegen den Willen der Eltern entweder deren Sohn tonsuriert oder deren Tochter verschleiert (Si quis puerum invitis parentibus totonderit aut puellam velaverit legem suam in triplo conponat) gänzlich unverständlich machen:
Abb.: Cava, BdB, 4, fol. 229r (BK 139 c. 21): „Si quis puerum parentes totonderit ad puella uenerint legem suam in triplo componat“ – „Dreifache Buße erlege, wer Sohn (und) Eltern tonsuriert zur Tochter kommen sie“? (© Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava).
Gelegentlich entstehen so Kapitel mit geradezu dadaistischem Charme, etwa wenn Ludwig der Fromme zu Beginn des 13. Kapitels von BK 139 vermeintlich von einem Grafen spricht, „in dessen Mysterium der König begangen wurde“:
Abb.: Cava, BdB, 4, fol. 227v (BK 139 c. 13): „Si quis aliquam necessitatem cogentem homicidium commiserit comes in cuius misterium rex perpetrata est compositione soluere et fayda per sacramentum pacificare faciant“ (© Biblioteca Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava).
Die Unterschiede zwischen Amt/Amtsbezirk (ministerium) und misterium, zwischen Sache/Tat (res) und König (rex) verschwammen hier unter der Feder. So gleichmäßig der Schreiber seine Buchstaben formte, so sorglos war er gegenüber dem Inhalt dessen, was er zu Pergament brachte. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich angesichts der auffallenden Diskrepanz zwischen äußerer Gestalt und innerem Gehalt bei dem Cavensis tatsächlich einmal um einen Codex handelt, dessen Hauptzweck in prunkvoller Repräsentation bestand, der aber keinerlei praktischem Zweck im Rechtswesen mehr diente.
S. Kaschke
Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Literatur:
Boretius 1864, S. 50-54
Mordek 1995, S. 98-111, 756-768
Mordek 1995a
Wormald 1979