Als wir im Herbst 2021 auf der Suche nach Hinweisen auf frühneuzeitliche Abschriften von Kapitularienüberlieferungen die Unterlagen der Gallia Pontificia-Mitarbeiter am DHI in Paris durchforsteten, stießen wir auf eine vielversprechende Notiz: In einer Handschrift der Pariser Bibliothèque nationale, Lat. 13079 (17. Jh.) mit „Extraits de divers mss. d’Italie“ sollten sich auf fol. 64r–67v „Auszüge aus Capitularien“ befinden, bzw. „(fragment.) Auszüge aus einer [gedruckten?] Kapitulariensammlung“. Die Handschrift wird von Hubert Mordek in seiner Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta nicht erwähnt; allerdings lag Mordeks Fokus auch auf den originalen Kapitularienhandschriften und nicht auf den neuzeitlichen Kopien, die größtenteils aus Drucken abgeschrieben sind (Mordek 1995 S. 1040). Sollte es sich auch bei dieser Kopie nur um eine Abschrift aus alten Drucken handeln, oder konnte nicht doch eine bisher unbekannte italienische Handschrift als Quelle herangezogen worden sein? Das galt es zu überprüfen.
Recht schnell war klar, dass für die Kopie zwar die Kapitularienedition von Étienne Baluze (in der 3. Auflage von 1780) benutzt wurde, dass es sich aber mitnichten bloß um eine Abschrift aus dieser handelte. Vielmehr wurde die Edition von Baluze benutzt, um die in einer originalen Handschrift enthaltenen Kapitularien zu identifizieren und vom Editionstext abweichende Textpassagen dieser Handschrift zu kopieren.
Abb. 1: Paris, BnF, Lat. 13079, fol. 66v (©Gallica): „1. De Ecclesiis Emendandis, Etc. vt In editis Tom. 2°. fol. 327. pro bunuariis MS. Codex habet Bichariis.“ Angabe einer zum Editionstext von Baluze abweichenden Lesart der benutzten Handschrift in BK 201 c. 1.
Da die Kopie fragmentarisch beginnt, haben sich eventuell am Anfang der Kopie vorhandene Hinweise auf die benutzte Vorlage nicht erhalten. Neben der Foliierung 64–67 weisen die Seiten noch eine zweite Zählung auf, und zwar die Paginierung 12–19. Diese zweite Zählung findet sich nur in diesem Teil des Codex. Offenbar befand sich die Kopie aus der Kapitularienhandschrift in einem separaten Konvolut oder Heft, das beim Zusammenbinden des Latinus 13079 nicht vollständig vorlag. Da das vorangehende Blatt als fol. 60 gezählt wird, müssen drei Blätter nach der Bindung und Foliierung verlorengegangen sein. Wenn man nach der Paginierung geht, muss das vollständige Konvolut aber mehr als nur drei Blätter zusätzlich enthalten haben, da die Seitenzählung ansonsten schon mit S. 7 einsetzen müsste.
An der Kopie waren zwei verschiedene Schreiber beteiligt; die zweite Hand übernahm ab fol. 65r / S. 14, Z. 15. Der erhaltene Text setzt auf fol. 64r / S. 12 ein mit suscepit similis est illi und endet auf fol. 67v / S. 19 etwa in der Seitenmitte mit quod apeta causa est adquirendum. Diese beiden am Anfang und Ende der fragmentarischen Kopie stehenden Texte lassen sich identifizieren als Capitula per missos cognita facienda (BK 67) c. 2 (Boretius 1883 S. 156 Z. 34) und Liutprandi notitia de actoribus regis c. 2 (Bluhme 1868a S. 181 Z. 10). Der letztgenannte Text des Langobardenkönigs Liutprand (712–744) gibt bereits einen deutlichen Hinweis auf die italienische Provenienz der mutmaßlichen Vorlage, und die ungewöhnliche Anordnung der Kapitel – c. 3–4 gehen den Kapiteln 1–2 voran – reduziert die Auswahl möglicher Vorlagen noch einmal: Es sind nur zwei Kapitularienhandschriften bekannt, die die Notitia Liutprands in dieser vertauschten Kapitelreihenfolge tradieren, nämlich Sankt Paul im Lavanttal, Stiftsbibliothek, 4/1 (1. Drittel 9. Jh., Oberitalien) und Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi F. IV. 75 (um 1000, Mittelitalien; S. Paolo fuori le Mura, Rom?); diese bieten allerdings zusätzlich c. 5 zwischen c. 4 und 1. Weitere Besonderheiten der Textfassungen lassen erkennen, dass es sich bei der für die Kopie verwendeten Vorlage mit Sicherheit um die Chigi-Handschrift gehandelt hat, z. B. unikale Lesarten (siehe oben Abb. 1), nur hier überlieferte Rubriken (siehen unten Abb. 2) oder die Zusatzkapitel und die Datierungszeile des Capitulare Papiense Lothars von 832, die ebenfalls nur der Chigianus bietet (BK 201; in Lat. 13079 auf fol. 66v / S. 17 Z. 23–29; vgl. die Transkription von Chigi F. IV 75 fol. 98r–101v). Dass es sich wirklich um dieselbe Handschrift handelt, und nicht etwa um eine bisher unbekannte Schwesterhandschrift, wird auch dadurch plausibel, dass sich in Lat. 13079 auf fol. 1r–36v eine Kopie der Chronik des Benedikt von Sant’Andrea auf dem Monte Soratte (ed. Zucchetti 1920) mit der Quellenangabe „manoscripto cod. olim Monas. S. Pauli de Urbe“ (= S. Paolo fuori le Mura) befindet, die unikal in der Chigi-Handschrift überliefert ist. Diese Kopie wurde offenbar von derselben Hand geschrieben, die auch im Teil mit den Kapitularien ab fol. 65r / S. 14 Z. 15 zu finden ist. Die fragmentarische Kapitulariensammlung des Latinus 13079 ist also eine auszugsweise Kopie von fol. 84r (ab Z. 15) bis 106v (bis Z. 13) der Chigi-Handschrift.
Die beiden Kopisten verglichen den Text der Handschrift mit der Edition von Baluze, aus der sie teilweise auch die Kapitelnummern übernahmen. Im Chigianus werden die Kapitularien nämlich größtenteils in umfangreichen Listen zusammengefasst und durchgezählt, so dass es teilweise schwierig ist, Anfang und Ende eines Kapitulars zu erkennen. Die beiden Schreiber des Lat. 13079 kopierten oft nur solche Rubriken, die der Chigianus unikal überliefert, sowie die Anfänge der Kapitel und verwiesen für den vollständigen Text auf die Edition von Baluze.
Abb. 2: Paris, BnF, Lat. 13079, fol. 64v (©Gallica): Auszugsweise Kopie von BK 94 und 158 mit unikal im Chigianus überlieferten Rubriken, vom übrigen Text nur jeweils die Kapitelanfänge mit Verweisen auf die Edition von Baluze.
Gegen Ende der Kopie scheint der zweite Kopist entweder das Interesse verloren oder nicht mehr genügend Zeit gehabt zu haben, denn c. 5 der Notitia de actoribus regis ließ er kommentarlos aus. Ein Zeilensprung oder eine versehentlich in der Vorlage überblätterte Seite scheiden als Erklärung dafür aus, da der betreffende Text im Chigianus mitten auf fol. 105r (in Z. 15) beginnt und auf fol. 106r (in Z. 6) endet. Auch die in der Chigi-Handschrift noch folgenden Texte, das Capitulare missorum von 818/819 (BK 141) sowie jüngere Kapitularien Lothars I. und Ludwigs II., wurden nicht mehr kopiert. Da die Kopie mitten auf der Seite endet, kann dies nicht auf einen Verlust von weiteren Seiten des Konvoluts zurückgeführt werden.
Es handelt sich bei dem „Neufund“ Lat. 13079 also nicht um eine bisher unbekannte Kapitularienüberlieferung, sondern um die Kopie einer „alten Bekannten“ – was uns nicht traurig macht, sondern uns in der Hoffnung bestärkt, keine wichtige Überlieferung, die sich möglicherweise in den zahlreichen Gelehrtenabschriften der Neuzeit versteckt haben könnte, übersehen zu haben.
B. Mischke
Literatur:
Baluze 1780 und Baluze 1780a
Bluhme 1868a
Boretius 1883
Zucchetti 1920
Mordek 1995