Die Handschrift Modena, Archivio Capitolare, O.I.2, die den Liber legum des Lupus überliefert, ist nicht zuletzt wegen ihres außergewöhnlichen Bildprogramms eine der bekanntesten Rechtshandschriften mit Kapitularien, die schon Gegenstand zahlreicher Studien war. Dennoch ließen sich einige Fragen bislang nicht abschließend klären, darunter die nicht unwesentliche nach ihrer Entstehungszeit. Hypothesen dazu decken eine sehr breite Zeitspanne zwischen der Mitte des 9. und dem Ende des 10. Jahrhunderts ab. Mit diesem Beitrag möchten wir neue Argumente für eine Spätdatierung der Handschrift präsentieren.
Die paläographische Einordnung der Handschrift wird dadurch erschwert, dass mehrere Schreiber an ihrer Entstehung beteiligt waren und die Schrift auch bei (vermutlich) ein und derselben Hand eine große Formenvielfalt aufweist (Pohl 2001, S. 127; Golinelli 2008a, S. 22). Die Zuweisung an ein bestimmtes Skriptorium ist bisher nicht gelungen; inzwischen gilt aber Modena als der wahrscheinlichste Entstehungsort (Pagano 2001, S. 254–257; Golinelli 2008a, S. 23f.).
Eine Schlüsselrolle bei der Datierung spielt ein als letzte Lage der Handschrift überliefertes Heft mit einem Kalendarium und komputistischen Texten, das sich sicher auf um 991 datieren lässt, da dem Kalendarium ein Jahresanhang in Form einer verkürzten Ostertafel folgt (fol. 211v), die mit ebendiesem Jahr beginnt (Borst, Reichskalender 1, S. 119). Davon ausgehend, aber durchaus auch mit paläographischen Argumenten, wurde die Entstehung der Handschrift in der älteren Forschung in der Regel für das 10. oder 11. Jahrhundert angenommen (vgl. die Zusammenfassung der älteren Datierungsvorschläge seit dem frühen 18. Jahrhundert bei Russo 1980, S. 608f.; Pagano 2001, S. 248–250; Golinelli 2008a, S. 21f.).
Jüngere paläographische Untersuchungen tendieren hingegen dazu, die Entstehung des Hauptteils der Handschrift mit den Rechtstexten noch in die 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts vorzuverlegen. Zu nennen ist hier vor allem Annalisa Bracciotti, die im Rahmen ihrer Studie zur Origo gentis Langobardorum (in Modena O.I.2 auf fol. 5v-7v) die Handschrift paläographisch analysiert hat. Ihr Urteil bezieht sich dabei nicht nur auf den Teil der Handschrift, in der sich die Origo gentis befindet und der von einer anderen Hand geschrieben wurde als der spätere Teil, den der Hauptschreiber schrieb (ab fol. 52r), sondern pauschal auf den gesamten Codex (Bracciotti 1998, S. 59f.). Die auf Basis des paläographischen Urteils vorgeschlagene Frühdatierung lässt sich zudem gut in den Kontext des Episkopats Bf. Leodoins von Modena (869/871–891) einordnen, zu dessen Zeit die Modeneser Bibliothek eine beachtliche Sammlung von Rechtshandschriften besessen haben muss, so dass dieses Entstehungsdatum mittlerweile breite Zustimmung gefunden hat. Als Beispiele seien genannt Pohl 2001, S. 125f. (mit Verweis auf Fornasari, Collectio, S. 251, der bereits 1966 die Schrift mit der einer Korrekturhand in den Modeneser Codices O.I.4 und O.I.12 in Verbindung brachte und in das 9. Jahrhundert datierte); Golinelli 2008a, S. 24; Nicolaj 2013a, S. 287f., 291f., 302 (wobei sowohl Pohl wie Nicolaj auch die Spätdatierung auf das Ende des 10. Jahrhunderts nicht ausschließen); Heil M 2017, S. 6; Mischke 2024, S. 500 sowie jüngst Thom Gobbitt (der sich außerdem auf mündliche Auskünfte von Colleen Curran, Anna Dorofeeva und Evina Stein beruft, die eine Datierung in das späte 9. Jahrhundert unterstützen; Gobbitt 2025, S. 252).
Die Diskrepanz zwischen der vorgeschlagenen Frühdatierung der Schrift im Hauptteil des Codex und dem unstrittig auf 991 weisenden Jahresanhang innerhalb der letzten Lage konnte Pohl durch eine ausführliche kodikologische Untersuchung scheinbar beseitigen. Er bestätigte die schon von Giuseppe Russo (Russo 1980, S. 610) geäußerte Beobachtung, dass der Faszikel mit dem Kalendarium erst später dazugebunden wurde und daher zumindest in kodikologischer Hinsicht nicht als Datierungskriterium für die gesamte Handschrift dienen könne. Eine Entstehung des Hauptteils der Handschrift mit den Rechtstexten noch im 9. Jahrhundert und die spätere Ergänzung um den Teil mit dem Kalendarium im 10. Jahrhundert erschien damit plausibel.
Allerdings fiel auch Pohl schon auf, dass es in paläographischer Hinsicht keinen sichtbaren Unterschied zwischen dem letzten Teil mit dem Kalendarium und dem diesem vorangehenden Teil gibt: „Die Schrift der letzten Lagen entspricht dann weitgehend derjenigen in den auf das Kalendarium folgenden komputistischen Texten und sieht nicht über 100 Jahre älter aus.“ (Pohl 2001, S. 127; ähnlich auch schon Russo 1980, S. 610, der „molte … affinità paleografiche“ zwischen den Teilen sah.) In der Frage, ob es in der letzten Lage der Handschrift einen Schreiberwechsel gibt, ist die Forschung uneins. Johannes Merkel (Merkel 1858, S. 596) meinte, der gesamte Codex sei von ein und derselben Hand geschrieben, woran sich Alfred Boretius zunächst anschloss (Boretius 1864, S. 32, 35). In der Einleitung zu seiner Ausgabe der Leges Langobardorum schwenkte Boretius jedoch um und meinte nun, der letzte Teil sei von jüngeren Händen geschrieben worden (Boretius 1868, S. XLI; ihm folgend Krusch 1924, S. 110). Rudolf Buchner widersprach dieser Einschätzung und wies den gesamten letzten Teil der Handschrift von fol. 55 bis 215 ein und derselben Schreiberhand zu (Buchner 1940, S. 64). Bracciotti hingegen hielt den Teil mit dem Kalendarium wiederum für jünger als den Rest des Codex (Bracciotti 1998, S. 58). Andere konstatierten nur pauschal die Beteiligung mehrerer Hände, ohne jedoch konkrete Zuweisungen zu den verschiedenen Teilen vorzunehmen (z. B. Russo 1980, S. 610, Golinelli 2008a, S. 11); mit Ausnahme von Gobbitt 2025, der eine Händezuweisung vornimmt, dabei aber die letzte Lage nicht berücksichtigt.
Im Zuge der Transkription und Nachkollationen der Handschrift für die digitale Edition haben wir daher ein besonderes Augenmerk auf die Frage gelegt, wie viele Hände an der Entstehung der Handschrift beteiligt waren. Dabei war uns vor allem der paläographisch geschulte Blick unseres Kollegen Grigorii Borisov eine große Hilfe, der individuelle Profile von drei Hauptschreibern erfassen konnte, von denen die ersten beiden abwechselnd jeweils einige Seiten oder kürzere Passagen im ersten Teil der Handschrift bis fol. 51v schrieben. Ab fol. 52r setzt jedoch ein dritter Hauptschreiber ein, der dann alleine den gesamten Rest des Codex bis zum Ende schrieb (mit Ausnahme der Seiten 53v-54v, die wiederum einer der beiden früheren Schreiber übernahm). Die Variabilität dieser Haupthand zeigt sich z. B. bei der -orum-Kürzung, die in zwei Formen begegnet (z. B. fol. 97v, Z. 19 und 20: einmal in Form einer spiegelverkehrten et-Ligatur, einmal als einfaches Kreuz). Auffällig ist die ex-Ligatur mit x in der Form eines nahezu senkrechten Kreuzes, der ebenfalls eine alternative Variante an die Seite gestellt werden kann, bei der x die ‚normale‘ Form des Andreaskreuzes hat (gut zu sehen ist die parallele Verwendung beider Ligaturformen auf fol. 55r, Z. 15-18 und Z. 25-28). Abgesehen von solchen variablen Merkmalen lässt sich die Hand durch die regelmäßig und in gleichbleibender graphischer Gestaltung verwendeten Kürzungen, Ligaturen und Buchstabenformen sowie weiteren sprachlichen Eigenarten (wie z. B. die regelmäßige Verwendung von ae im Anlaut: aecclesia, aedictus, aeternum …) aber gut fassen. Trotz der unterschiedlichen graphischen Gestaltung des Rechts- und des komputistischen Teils der Handschrift treten die Merkmale der Haupthand aus dem Rechtsteil auch in der letzten Lage der Handschrift deutlich hervor.

Allerdings gibt es ausgerechnet bei dem Jahresanhang zum Kalendarium, der den einzigen sicheren Anhaltspunkt für die Datierung der Handschrift auf um 991 darstellt, eine Auffälligkeit: Der Beginn mit den Jahren 991 bis 1006 steht noch auf fol. 211v, und zwar in die untere rechte Ecke gedrängt. Die Fortsetzung ab dem Jahr 1007 bis 1158 (vgl. Merkel 1858, S. 603) befindet sich auf fol. 212r–v, bei dem es sich um ein Blatt handelt, das in die letzte Lage eingeheftet ist.

Es sieht so aus, als habe der Schreiber zunächst auf der letzten Seite des Kalendariums auf freigebliebenem Platz mit dem Eintragen des Jahresanhangs begonnen und ihn dann auf einem eigenen Blatt fortgesetzt, das nachträglich in die Lage eingeheftet wurde. Denkbar ist aber auch, dass das Blatt fol. 212 mit dem Jahresanhang ab 1007 (das dem 1. Jahr eines Zyklus entspricht) separat geschrieben wurde und der Schreiber ihn, nachdem er das Blatt in die Lage eingeheftet hatte, nachträglich auf dem vorangehenden Blatt um die Jahre 991 – 1006 erweiterte. Sollte es sich aber um einen Nachtrag handeln, der womöglich sogar erst nach der Fertigstellung der letzten Lage hinzugefügt wurde, ist es umso wichtiger festzustellen, ob er von derselben oder einer anderen Hand stammt. Für einen paläographischen Vergleich steht allerdings nur eingeschränktes Material zur Verfügung: der Jahresanhang enthält hauptsächlich römische Ziffern sowie Majuskeln für die Mondbuchstaben. Der Duktus sowie übereinstimmende Formen bei den Majuskelbuchstaben (inklusive Doppelformen für E und G) lassen jedoch den begründeten Schluss zu, dass es sich auch hierbei um den Hauptschreiber des gesamten letzten Teils handelt. Diese Einschätzung konnte auch Antonio Ciaralli mit weiteren paläographischen Argumenten bestätigen, dem wir herzlich für seine Expertise danken.

Wenn es sich bei dem Schreiber der letzten Lage inklusive des Jahresanhangs zum Kalendarium aber um dieselbe Person handelt, die den Rechtsteil der Handschrift geschrieben hat, kann die Datierung in das 9. Jahrhundert kaum zutreffen. Dass ein und derselbe Schreiber zunächst eine Kopie des Rechtsbuches herstellte und erst Jahre später das Heft mit dem komputistischen Inhalt, ist zwar denkbar – aber dass zwischen diesen beiden Arbeitsaufträgen knapp 100 Jahre gelegen haben sollen, ist schlicht unmöglich. Die hier präsentierten Erkenntnisse stehen noch unter dem Vorbehalt des ‚Work in progress‘ und werden in einer in Arbeit befindlichen Studie von Borisov zu Schreiberhänden mit großer Formenvarianz noch weiter ausgeführt. Bis auf Weiteres sieht es aber danach aus, dass die oft in Zweifel gezogene Datierung von Modena O.I.2 „Ende 10. Jahrhundert, ca. 991“, die sich auch bei Mordek findet, weiterhin Gültigkeit beanspruchen kann.
B. Mischke
Merkel 1858
Boretius 1864
Boretius 1868
Krusch 1924
Buchner 1940
Russo 1980
Bracciotti 1998
Borst, Arno, Der karolingische Reichskalender und seine Überlieferung bis ins 12. Jahrhundert, Teil 1 (MGH Libri memoriales 2, 1; Hannover 2001)
Pagano 2001
Pohl 2001
Golinelli 2008a
Nicolai 2013a
Heil M 2017
Mischke 2024
Gobbitt 2025
