Auch wenn es immer wieder Editionen gibt, die für die Ewigkeit gemacht zu sein scheinen, ist dies bei weitem nicht der Regelfall. Ganz im Gegenteil: Neufunde von Textzeugen, seien es Handschriften oder Drucke, geänderte Prämissen in editionsphilologischer Hinsicht, neue Forschungsfragen und -probleme oder die unzureichende Qualität bestehender Editionen können Gründe dafür sein, warum Editionen immer wieder neu gemacht werden müssen. Die Erarbeitung verlässlicher Editionen ist gerade für die Epoche des Mittelalters von besonderer Bedeutung, bedenkt man, wie viele Texte noch unediert und damit unzureichend erschlossen sind. Dies gilt für jeden Bereich der Mediävistik gleichermaßen, für den Rechtshistoriker genauso wie für den Mittellateiner oder den Altgermanisten. Edieren ist ein mühsames Geschäft, gleichsam die Erklimmung eines Berges, dessen Spitze man kaum oder gar nicht sieht. Kurzum: es dauert. Es dauert vor allem, weil professionelles Edieren nicht umfassend gefördert wird. Die meisten Editor:innen tun dies nebenberuflich. Nur selten gibt es das Glück einer langfristigen Förderung wie sie z.B. das Kapitularienprojekt genießt.
Die Neuedition der Kapitularien löst eine Edition ab, die in zwei Bänden (1883 und 1897) erschienen ist (Boretius 1883 / 1897) und damit weit über 100 Jahre maßgeblich war. Die geplante Neuedition der mit den Kapitularien zusammenhängenden Institutio sanctimonialium ist ähnlich gelagert. Die bis heute heranzuziehende Edition stammt von Albert Werminghoff und aus dem Jahr 1906 (MGH Conc. 2,1, S. 421–456, Werminghoff 1906). Die Institutio sanctimonialium (vgl. zu ihr Schilp 1998 und Vanderputten 2018, S. 1–20) wurde auf dem Aachener Konzil vom August und September 816, das unter dem Vorsitz Ludwigs des Frommen tagte, erarbeitet und verabschiedet und sollte eine reichsweit gültige Regel für nicht-monastische Frauenkommunitäten darstellen. Auf derselben Synode wurde zudem die Institutio canonicorum für entsprechende männliche Gemeinschaften verkündet (Werminghoff 1906, S. 312–421). Die Aachener Reformkonzilien reihen sich gut in die gerade zu Beginn von Ludwigs Herrschaft zu beobachtende rege gesetzgeberische Aktivität ein, die sich besonders in seinen 818/819 erlassenen Kapitularien (Nr. 137–141) widerspiegelt. Die beiden Institutiones sind zudem ein Ausdruck für die von Ludwig dem Frommen mit Elan begonnene Reform der Kirche (vgl. allgemein hierzu nur Semmler 1990 und Semmler 1995).
Abb.: Rom, Biblioteca Nazionale Centrale, Vitt. Em. 1348, fol. 104r, Institutio sanctimonialium: Teil des Kapitelverzeichnisses, Prolog und Beginn von c. 1 (© Biblioteca Nazionale Centrale Roma)
Dass der Fokus der anwesenden Konzilsteilnehmer klar auf der Regel der Kanoniker lag, ist schon am Umfang ihrer Regel abzulesen; sie umfasst ganze 145 Kapitel, die Institutio sanctimonialium dagegen nur 28. Die Institutio sanctimonialium besteht – laut Wermingshoffs Edition – aus einem kurzen Prolog, einem Kapitelverzeichnis und der folgenden Kapitelliste, von denen die ersten sechs Kapitel aus Kirchenväterschriften genommen sind, wie auch sonst nicht mit Zitaten gegeizt wurde. Albert Werminghoff zog für seine Edition fünf Handschriften und den Druck von Jacques Sirmond heran, der eine verlorene Handschrift vertritt. Vor der Werminghoff’schen Edition gab es bereits acht andere Ausgaben, beginnend mit dem erwähnten Sirmond (Sirmond 1629a, S. 403–425) über Labbé / Cossart sowie Mansi bis zu Mignes Patrologia Latina. Die Aachener Frauenregel ist also schon seit mehreren Jahrhunderten fester Bestandteil von Ausgaben kirchenrechtlicher Texte.
Die Notwendigkeit einer Neuedition der Institutio sanctimonialium und auch der Institutio canonicorum hat Gerhard Schmitz in einem wichtigen Aufsatz von 2007 herausgestellt. Diese Neuedition stellt er sich als „Supplementband zu der in Arbeit befindlichen Kapitularienausgabe“ (Schmitz G 2007, S. 497, auch S. 533) vor. Schmitz rekonstruiert dabei die wechselvolle Geschichte des Codex Rom, Biblioteca Nazionale Centrale, Vitt. Em. 1348, den Werminghoff nicht für seine Edition herangezogen hat, weil er ihn nicht kannte bzw. für verschollen hielt. Dieser Codex ist aber, so stellt Schmitz heraus, sehr bedeutend für die Überlieferung der Institutio sanctimonialium, da er sehr nah an die Aachener Synode von 816 zu datieren ist. Danach geht Schmitz auf die Qualität der Edition Werminghoffs ein und stellt einige Punkte heraus, die kritisch zu bewerten sind, u.a. wurden die Editionsprinzipien nicht dargelegt, Textgestaltung und Quellenkritik sind verbesserungswürdig, der Apparat ist „strukturell unzuverlässig“ (Schmitz G 2007, S. 526) und die Darbietung des Textes sollte mehr auf die Gestaltung in den Textzeugen eingehen (vgl. hierzu Schmitz G 2007, S. 532f.).
Es gibt also mehrere gute Gründe, die Institutio sanctimonialium neu zu edieren; und dabei sei erst einmal dahingestellt, ob man sie im Rahmen der Neuedition der Kapitularien oder als Supplement zu den Konzilstexten herausbringt. Die handschriftliche Grundlage dieser neuen Edition hat sich im Vergleich zu Werminghoffs Ausgabe deutlich vergrößert. Schmitz bietet einen kurzen Katalog der Handschriften der Institutio sanctimonialium (Schmitz G 2007, S. 509–517), wozu man allerdings noch eine Wolfenbütteler Überlieferung rechnen muss, die bisher in der Forschung nicht thematisiert wurde, auf die aber Bertram Lesser aufmerksam gemacht hat (vgl. hierzu seinen ausführlichen Katalogeintrag). Rechnet man den Druck Sirmonds noch hinzu, so haben sich die Textzeugen der Institutio sanctimonialium im Vergleich zu Werminghoffs Zeiten fast verdoppelt (neue Textzeugen sind mit einem Asterisk versehen):
– Montpellier, Bibliothèque Interuniversitaire (Section Médecine), H 85 (12. Jh.)
– München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14431 (1./2. Viertel 9. Jh.)
– *Oxford, Bodleian Library, Rawlinson C. 661 (Anfang 12. Jh.)
– Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1534 (ca. 3. Viertel 9. Jh.)
– Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1568 (3./4. Viertel 9. Jh.)
– *Rom, Biblioteca Nazionale Centrale, Vitt. Em. 1348 (wohl kurz nach 816)
– Sirmond, Concilia antiqua Galliae 2, Paris 1629
– *Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 4° 232 (um 1140)
– *Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Ser. n. 3759 (1./2. Viertel 9. Jh., Fragment, vgl. hierzu Pokorny 2021, S. 38 Anm. 66)
– *Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 877 Helmst. (4. Viertel 11. Jh.)
– Würzburg, Universitätsbibliothek, M.p.th.q.25 (1. Drittel 9. Jh.)
Eine Neuedition der Institutio sanctimonialium kann sich also auf eine gute handschriftliche Basis stützen, auch wenn einige Handschriften den Text nur unvollständig bieten. Dabei ist umso erfreulicher, dass viele Handschriften bereits in guten Online-Digitalisaten vorliegen. Die Neuedition wird dem neu konstituierten Text einen Kommentar und eine deutsche Übersetzung beifügen. Gerade zu Frauenkommunitäten wurde in den letzten Jahren viel Forschung betrieben, die gewinnbringend in die Edition einfließen kann. Durch die Neuedition der Kapitularien Ludwigs des Frommen liegen zudem wichtige Texte für die allgemeine Einordung der Reformbemühungen Ludwigs des Frommen in seinen Anfangsjahren als Kaiser in verlässlicher Form vor.
Das Projekt wurde bereits von der Zentraldirektion der MGH angenommen und wird in deren Leges-Reihe erscheinen. Wie oben aber schon angedeutet: Gut Edieren will Weile haben. So wird auch diese Edition einige Zeit in Anspruch nehmen.
Dominik Trump
Steckbrief
Ziel: Neuedition der Institutio sanctimonialium von 816 samt deutscher Übersetzung und Kommentar für die Leges-Reihe der MGH
Bearbeiter: Dr. Dominik Trump
Textzeugen: 9 Handschriften, 1 Fragment, 1 Druck
Literatur
Sirmond 1629a
Boretius 1883
Boretius 1897
Werminghoff 1906
Semmler 1990
Semmler 1995 = Josef Semmler, Die Kanoniker und ihre Regel im 9. Jahrhundert, in: Irene Crusius (Hg.), Studien zum weltlichen Kollegiatstift in Deutschland (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 114 / Studien zur Germania Sacra 18), Göttingen 1995, S. 62–109.
Schilp 1998
Schmitz G 2007
Vanderputten 2018 = Steven Vanderputten, Dark Age Nunneries. The Ambiguous Identity of Female Monasticism, 800–1050, Ithaca / London 2018.
Pokorny 2021