Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Ein neues Capitularia-Dissertationsprojekt: Unfreiheit in den fränkischen Herrschererlassen

Im ersten Blogpost des Jahres 2021 möchte ich – nachdem im letzten Jahr gleich drei projektinterne Dissertationsprojekte erfolgreich abgeschlossen werden konnten – das jüngste Projekt aus den Reihen der Capitularia-Mitarbeiter vorstellen.

In meinem Dissertationsvorhaben beschäftige ich mich seit November 2019 mit dem Themenkomplex der Unfreiheit in den fränkischen Herrschererlassen.

Verschiedenste Aspekte der Unfreiheit werden in dutzenden Kapitularien thematisiert. Beispielsweise regelte Karl der Große im März 779 in einem seiner ersten Kapitularien, dem sogenannten Kapitular von Herstal (BK 20), zentrale Aspekte des Verkaufs und Erwerbs von Unfreien. Nach Kapitel 19 dieses Erlasses durften mancipia ausschließlich in Gegenwart ausgewählter Amtsträger verkauft werden. Der Verkauf über die Grenzen des Frankenreichs hinaus (foris marca) wird gar vollständig untersagt. Einen weiteren bedeutsamen Aspekt im Zusammenhang mit Unfreien – nämlich den Umgang mit Flüchtigen – behandeln gleich mehrere Kapitularien Ludwigs des Frommen (vgl. BK 140, c. 1; BK 141, c. 18; BK 148, c. 3; BK 165, c. 13). Damit greift Ludwig ein Themenfeld auf, mit dem sich sowohl sein Vater (BK 98, c. 8) als auch sein Bruder Pippin (BK 102, c. 19) in ihren Erlassen bereits auseinandergesetzt hatten. Doch auch der Lex Salica (Eckhardt K 1956, S. 402f.) sind Regelungen zum Umgang mit flüchtigen Unfreien nicht fremd.

Während Hermann Nehlsen die Situation der Unfreien in den Leges bereits umfassend untersucht hat (Nehlsen 1972), existiert eine solche Studie für die Kapitularien bisher nicht. Auch die 2017 von Alice Rio veröffentlichte, äußerst aufschlussreiche Monografie „Slavery after Rome“ behandelt die Kapitularien nur am Rande. Allerdings meint Rio feststellen zu können, dass viele Bestimmungen bezüglich der Unfreien im Karolingerreich, wie etwa der Verlust der standesmäßigen Freiheit bei der Heirat von statusungleichen Partnern, äußerst rigide formuliert waren, sodass eine konsequente Durchsetzung dieser nur schwer vorstellbar scheint. Sie vermutet diesbezüglich, dass die fränkischen Herrscher hinsichtlich der in ihren Kapitularien festgehaltenen Regelungen keineswegs erwarteten, dass diese strikt umgesetzt würden. Vielmehr seien – Rio zufolge – die Erlasse bezüglich Unfreiheit darauf ausgerichtet, eine möglichst günstige Verhandlungsgrundlage für die Eliten des Reichs zu schaffen, um die Durchsetzung ihrer Besitzansprüche zu erleichtern. Von diesem „hard-line starting point“ (Rio 2017, S. 236) könne dann – je nach Verhandlungsposition der jeweiligen Parteien – durchaus abgewichen werden. Exemplarisch dafür mag der oben genannte Fall bezüglich der Eheschließungen zwischen statusungleichen Personen zu betrachten sein, welcher in der Praxis nachweislich oftmals nicht eingehalten wurde (Goetz 2019, S. 218f.). Allerdings merkt Rio an (S. 235f.), dass mit BK 58, c. 8 bereits eine Lockerung dieser vermeintlich drakonischen Gesetzgebung existiert. Dort wird bestimmt, dass die Kinder, die aus solchen Ehen zwischen ungleichen Partnern entstanden, durchaus frei bleiben konnten, sofern dies (vorab) per Urkunde festgehalten wurde.

Ausgehend von Rios These soll im Rahmen des Dissertationsprojekts untersucht werden, ob die karolingischen Herrscher in Bezug auf die Unfreien ihres Herrschaftsraums überhaupt eine bestimmte Agenda verfolgten. Anders gesagt: Gab es eine „Unfreienpolitik“ der Karolinger?

Bei der Frage nach einer Unfreienpolitik der Karolinger drängt sich des Weiteren die Frage nach einer chronologischen Entwicklung bzw. Veränderung auf. Waren Karl der Große oder Ludwig der Fromme Initiatoren eines Wandels im Umgang mit Unfreiheit? Oder reagierten sie mit ihren Kapitularien auf ohnehin stattfindende Veränderungen in diesem Bereich?

Ebenso müssen eventuelle regionale Unterschiede berücksichtigt werden. Dies scheint aufgrund der weiterhin geltenden verschiedenen Volksrechte von Bedeutung. Ein erster Blick auf die entsprechenden Bestimmungen lässt eine erhöhte Anzahl an Kapiteln, die sich mit Unfreiheit auseinandersetzen, in den sogenannten italienischen Kapitularien vermuten. Kann in den verschiedenen Herrschererlassen eine Tendenz der reichsübergreifenden Vereinheitlichung festgestellt werden, oder lässt sich in Bezug auf die Unfreienkapitel Jennifer Davis‘ These von Zentralisierung ohne Angleichung/Vereinheitlichung bestätigen (vgl. Davis 2015, S. 11)?

Freilich darf eine Untersuchung, welche den Themenkomplex der Unfreiheit in den Kapitularien untersucht, auch thematische Aspekte ebendieser Erlasse nicht unberücksichtigt lassen. Rios These, wonach die Kapitularien eine Verhandlungsgrundlage schaffen, würde vermuten lassen, dass nur ebensolche Themengebiete angesprochen werden, die aus herrscherlicher Perspektive rechtliche Relevanz besaßen. Moralische Gesichtspunkte, wie etwa die Einhaltung und Durchsetzung christlicher Wertvorstellungen wären entsprechend irrelevant. Auch die Regelung alltagsrelevanter Themen für Unfreie im Karolingerreich wären dementsprechend für die Kapitularien nicht von Interesse – ein Umstand, der sich zumindest auf den ersten Blick wohl bestätigen ließe.

In den nächsten Monaten sollen zunächst ebenjene Herrschererlasse untersucht werden, welche die Eheschließung unter Beteiligung von Unfreien regeln…

D. Leyendecker


Literatur:

Boretius 1868
Boretius 1883
Eckhardt K 1956
Nehlsen 1972
Davis 2015
Rio 2017
Goetz, Hans-Werner, Palaiseau. Zur Struktur und Bevölkerung eines frühmittelalterlichen Dorfes in der Grundherrschaft des Klosters Saint-Germain-des-Prés, in: Thomas Kohl / Steffen Patzold / Bernhard Zeller (Hg.), Kleine Welten – Ländliche Gesellschaften im Karolingerreich (Vorträge und Forschungen 87), Ostfildern 2019, S. 205-236

Empfohlene Zitierweise
Dominik Leyendecker, Ein neues Capitularia-Dissertationsprojekt: Unfreiheit in den fränkischen Herrschererlassen, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/unfreiheit-in-den-fraenkischen-herrschererlassen/ (abgerufen am 21.11.2024)