Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats Mai 2019: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, 191(277)

Ein vergessener Textzeuge von BK 174

Die Handschrift aus der Stiftsbibliothek Einsiedeln dürfte den Kanonisten gut vertraut sein, tradiert sie doch als einer der frühen Textzeugen (8./9. Jahrhundert; Bischoff 1998, S. 239) die Collectio canonum Quesnelliana (Kéry 1999, S. 27-28). Damit ist auch zugleich der Hauptinhalt dieses Codex angesprochen, der von vielen anderen, zum großen Teil nur bruchstückhaft überlieferten Texten unterschiedlichster Art begleitet wird. Im Anschluss an die Quesnellsche Sammlung folgt zuerst die Notitia Galliarum und – von verschiedenen Hymnen eingebettet – BK 174, die Capitula ab episcopis Attiniaci data von 822 (Depreux 2016). Die Capitula wurden von einer Nachtragshand, die gut an ihrer schwarzen Tinte zu erkennen ist, geschrieben und schließen ohne Inskription oder sonstige Einleitung an einen vorhergehenden Hymnus an.

Abb.: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, 191(277), fol. 232r, Beginn von BK 174 ©e-codices

Die Editionsgeschichte von BK 174 ist dabei besonders interessant. In den Kapitularieneditionen von Georg Heinrich Pertz (Pertz G 1835, S. 231) und Alfred Boretius (Boretius 1883, S. 357-358) wird das Stück bereits ediert, aber jeweils nur auf Grundlage des anderen erhaltenen Textzeugen, der Handschrift Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 130 Blank., die im Gegensatz zum Einsidlensis eine groß angelegte Kapitulariensammlung darstellt. Es war erst Albert Werminghoff, der in seiner 1908 erschienenen Konzilienedition (Werminghoff 1908, S. 468-472) beide Handschriften für die Erstellung seines kritischen Textes heranzog. Werminghoff machte schon vor dem Erscheinen seiner Edition auf mehrere Textzeugen der Capitula aufmerksam (Werminghoff 1899, S. 484) und nannte dabei neben dem Blankenburgensis und dem Einsidlensis auch die Handschrift Valenciennes, Bibliothèque municipale, 162, die aber BK 150 enthält, wie er in einer etwas späteren Publikation klarstellte (Werminghoff 1901a, S. 25).

Die Handschrift aus Einsiedeln bietet bei BK 174, das aus sechs Kapiteln besteht, gerade bei den cc. 4-6 interessante Varianten, die in der Wolfenbütteler Handschrift nicht zu finden sind, sodass sie auch textkritisch als wertvoll eingestuft werden muss. Schon Werminghoff folgte bei seiner Textkonstitution dem Einsidlensis. Dieser bietet beispielsweise in c. 4 das im Blankenburgensis fehlende Adverb inexcusabiliter. In c. 5 fehlt letzterem im Vergleich zur Handschrift aus Einsiedeln gar der komplette Halbsatz ad audiendum verbum divinum non veniunt qui interdum etiam familiam suam his diebus quibus, was gut mit einem Augensprung erklärt werden kann, gibt es doch zweimal kurz hintereinander die Junktur ad audiendum (Werminghoff 1908, S. 472). Trotz der Tatsache, dass der Einsidlensis also schon lange als Textzeuge von BK 174 bekannt ist, findet er in Mordeks “Bibliotheca capitularium” (Mordek 1995, S. 1099) keine Erwähnung. Mordek spricht daher BK 174 als “Unikat” an, dass nur im Blankenburgensis überliefert sei (Mordek 1995, S. 932-933).

BK 174 wird, da es sich um Beschlüsse einer Versammlung der Bischöfe handelt, die wohl nur vom Kaiser bestätigt wurden (Boretius 1883, S. 357; Mordek 1995, S. 932), nicht in die derzeit entstehende Neuedition der Kapitularien Ludwigs des Frommen und Lothars aufgenommen, sodass Wermingshoffs Edition grundlegend bleibt. In Bezug auf die reiche Kapitulariensammlung des Blankenburgensis behält der Einsidlensis aber eine wichtige Funktion, da er als weiterer Textzeuge eines ansonsten nur sehr schmal überlieferten kapitulariennahen Textes für die Bewertung der Sammlung in der Wolfenbütteler Handschrift wichtig ist. Aus diesem Grund wurde die Kopie von BK 174 im Einsidlensis für die digitale Edition transkribiert. Die Handschriftenbeschreibung wurde im Vergleich zu den verdienstvollen Arbeiten von Meier 1899 und Lang 2011 an einigen Stellen erweitert und aktualisiert, da zudem weitere Texte der Handschrift identifiziert werden konnten.

Der Einsidlensis zeigt einmal mehr sehr gut, welche Bedeutung Nachträge in Handschriften haben können, gerade wenn sie die Bewertung von Texten beeinflussen und textkritisch relevant sind.

Dominik Trump


Zur Handschriftenseite (Beschreibung und Transkription)


Literatur
Pertz G 1835
Boretius 1883
Catalogus codicum manu scriptorum qui in Bibliotheca monasterii Einsidlensis O.S.B. servantur, descr. Gabriel Meier. Tomus I complectens centurias quinque priores, Leipzig 1899, S. 150-151.
Werminghoff 1899
Werminghoff 1901a
Werminghoff 1908
Mordek 1995
Bischoff 1998
Kéry 1999
Beschreibung für e-codices von P. Dr. Odo Lang OSB, Stiftsbibliothek Einsiedeln, 2011.
Depreux 2016

Empfohlene Zitierweise
Dominik Trump, Handschrift des Monats Mai 2019: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, 191(277), in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-mai-2019/ (abgerufen am 21.11.2024)