Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats November 2017: Paris, BnF, Lat. 3877

Isaak von Langres und Pseudoisidor

Der Kodex Paris, BnF, lat. 3877 scheint für einen Zeitraum von über hundert Jahren eine gern genutzte Gebrauchshandschrift gewesen zu sein. Heute besteht der Kodex aus 94 Folia, doch tragen diese Seiten nicht nur zahlreiche Nachträge von verschiedenen Händen, einige Blätter und Lagen sind auch später erst zusätzlich eingebunden worden. Der jüngste Nachtrag ist das Capitulare Ticinense Ottos III. vom 20. September 998, das auf dem Seitenrand von fol. 70v seinen Platz gefunden hat (ed. MGH Conc. 6, 2 Nr. 58 S. 562–564). Hingegen wird die Anlage der Kernhandschrift frühestens auf das dritte Drittel des 9. Jahrhunderts (Bischoff 2014 S. 92f. Nr. 4292), oder wahrscheinlicher auf das vierte Viertel desselben Jahrhunderts bis vielleicht auf den Beginn des 10. datiert (vgl. Mordek 1995; Pokorny 1995). Im 10. Jahrhundert gehörte der Kodex dem Kloster St. Germain in Auxerre an, wie der Besitzvermerk auf fol. 5r bekannt macht: HIC EST LIBER SANCTI GERMANI AUTISSIODORE[NSIS]. Die Schriftheimat verortete Bischoff pauschal in Frankreich.

Abb. Paris, BnF, Lat. 3877, fol. 5r (© Gallica)

Den Nukleus der Sammlung bilden die Capitula des Bischofs Isaak von Langres (* um 820, † 18. Juli 880), die zugleich den größten Raum des Pergaments einnehmen: 5r–v Praefatio, 6v–12v Capitulatio, 15v–58v die Capitula. Isaak sah sich nach eigener Aussage zu seinem Werk veranlasst, weil wohl einige (rebellische Kleriker?) zwitscherten, alles, was er sage, sei nur von ihm ficta et ęxcogitata … et inventa (Praefatio, ed. Pokorny 1995 S. 80 Z. 10). Aus diesem Grund habe er nun die Capitula zusammengetragen, um seine Widersacher mit apostolica pariter ac regali auctoritate zum Schweigen zu bringen (ebd. Z. 19f.). Tatsächlich zitierte der Bischof von Langres aber ausschließlich Bestimmungen aus den Fälschungen des Benedictus Levita. Jedoch hat er kurioserweise seine Quelle eher verschleiert als offengelegt: Er behauptete, die Capitula entstammten zwei Konzilen, die der heilige Bonifatius stellvertretend für Papst Zacharias zusammen mit dem Hausmeier Karlmann im Jahr 742 in Mainz abgehalten habe. Diese Information entnahm Isaak allerdings dem Vorwort der gefälschten Kapitulariensammlung (vgl. Pokorny 1995, S. 180 Anm. 1; Mordek 1980 S. 208f.; Schmitz G 2008 S. 1), was ihm schließlich den Ruf eines „unkritische[n] Pseudoisidor-Rezipient[en]“ einbrachte (vgl. Pokorny 1995 S. 163).

Neben unserem Liber laureatus ist Isaaks Sammlung vollständig noch in vier weiteren Kodizes des ausgehenden 9. oder des 10. Jahrhunderts überliefert; des Weiteren hat sich auch ein Fragment erhalten; in vier Handschriften finden sich Auszüge aus Isaaks Werk und schließlich existiert noch eine späte Rezeption des 12. Jahrhunderts. Die alten Vollsammlungen mit bereits breiter geographischer Streuung lassen sich auf zwei Textklassen aufteilen, von denen unsere Handschrift des Monats November 2017 nicht nur die beste und älteste der Klasse Ia darstellt, sondern auch zur Leithandschrift der kritischen Edition ernannt wurde, während die Spitzenposition der Klasse Ib der Parisinus lat. 2449 (Ende 9. Jh., Lyon) einnimmt. Beide Kodizes enthalten Randglossen, die als Arbeitsnotizen Isaaks angesehen werden. Nach der Meinung von Gerhard Schmitz überstehen solche „wertlosen“ Glossen aber „nicht beliebig viele Kopiervorgänge“, daher sollte ein Vergleich dieser beiden Handschriften sehr nah an das Arbeitsexemplar des Autoren heranreichen. Sie geben „also recht präzise Auskünfte über Textgestalt und -qualität“ des Archetypen (Schmitz G 2008 S. 6).

Was aber für das Alter und die Güte des (Haupt-)Textes spricht, kann nun auch für die Kontexte der Sammlung angenommen werden. In einem engen Zusammenhang zum Isaak’schen Opusculum stehen einige Exzerptreihen, geschöpft aus den pseudoisidorischen Dekretalen und anderem, hauptsächlich kirchlichem Recht. Die Textklasse Ia überliefert diese Auszüge (mit je leichten Variationen) in einer einfachen Version, die Klasse Ib in einer erweiterten. Dagegen verhalten sich die Capitulationes zu Isaaks Capitula in beiden Handschriftenklassen diametral: Die Klasse Ia mit der einfachen Version der Exzerptreihen enthält eine erweiterte Capitulatio, Klasse Ib mit den erweiterten Exzerpten eine einfache, d.h. sie enthält nur die Rubriken aus den Isaak’schen Benedict-Kapiteln. Die erweiterte Capitulatio aus Ia enthält aber nicht die Inskriptionen zu allen folgenden Exzerptreihen, sondern nur zu zwei ausgewählten Titeln (mit insg. 17 Inskriptionen, s.u.).

Paul Fournier (1899 S. 357–373) hat die erweiterte Fassung der Exzerptreihen nach dem Kompagnon unseres Kodex, nach der Handschrift Paris, lat. 2449 ausführlich analysiert. In unserem Latinus 3877 finden sich parallel zum 2449er folgende Exzerptreihen, die folglich auch schon der gemeinsamen Urvorlage aller Isaakhandschriften angehört haben, vielleicht also auch schon Isaaks Arbeitsexemplar:

58v–66v (I) Zwölf Exzerpte aus den pseudoisidorischen Dekretalen mit der Rubrik De iniuria videlicet et honore episcoporum (vgl. Pokorny 1995 S. 173. Bei Fournier Nr. II. Rezeption teilweise in Trosly a. 909, vgl. Schmitz G 1977 Trosly S. 363f.).
66v–68r (II) Sechs Kanones zum Thema Klosterwesen ohne Rubrik (vgl. Pokorny 1995 S. 173. Bei Fournier Nr. V. Bei Mordek 1975 S. 175–158: Sammlung in 22 Kapiteln, 1. Teil).
68r–69v (III) Dreizehn Kapitel mit der Rubrik De Iudaeis (vgl. Pokorny 1995 S. 173. Bei Fournier Nr. VI. Bei Mordek 1975 S. 175–158: Sammlung in 22 Kapiteln, 2. Teil).
70r–71v (IV) Vier Kapitel zum Thema De rebus ecclesiae (vgl. Pokorny 1995 S. 173. Bei Fournier Nr. VIII. Dieser Teil auch in der erweiterten Capitulatio).
71v–79r (V) 26 Exzerpte De modis accusatorum et accusationum, hauptsächlich aus Pseudoisidor (vgl. Pokorny 1995 S. 173. Bei Fournier Nr. IX).
79v–83v (VI) Dreizehn Exzerpte aus den pseudoisidorischen Dekretalen mit der Rubrik Incipiunt capitula de epistolis apostolicis deflorata (vgl. Pokorny 1995 S. 173. Bei Fournier Nr. X. Dieser Teil auch in der erweiterten Capitulatio).

Es folgt noch ein weiterer Abschnitt mit eigenen Exzerpten und Nachträgen, die bis auf wenige Ausnahmen in der übrigen Isaaküberlieferung keine Parallele finden:

84r–94v (VII) Verschiedenes Material von verschiedenen Händen ohne systematische Ordnung (vgl. Pokorny 1995 S. 173. Dieser Teil enthält eine Fehlbindung: Das Unio foll. 89–90 gehört nach fol. 84v. Richtige Reihenfolge: 1–84, 89–90, 85–88, 91–94).

Die Ausnahmen sind allerdings insofern gewichtig, als dass sie apokryph sind und nur als Satelliten zum Isaakmaterial auftreten. Nach Fournier sind sie „inspirés par l’esprit de la réforme isidorienne“ (S. 361), da sie vorwiegend den Bischof und den Klerus vor laikaler Jurisdiktion schützen. Die vier Kapitel befinden sich auf den foll. 89r–90v (ed. Fournier 1899 Nr. IV, S. 359 Z. 9–35, S. 360 Z. 1–19, 20–29) und wiederholt auf den foll. 91r–92r (bei Fournier auch in Nr. XI). Ob diese Fiktionen von Isaak stammen oder ihm untergeschoben wurden, ist schwer zu entscheiden. Eine Aufarbeitung des gesamten Materials – bestenfalls auch textkritisch – ist derzeit noch ein Desiderat.

Der Vergleich der erweiterten Capitulatio mit dem Körper der Sammlung, wie Friedrich Maassen sagen würde, zeigt nun eine deutliche Evolution der Vorlage auf: Die Exzerptreihen IV und VI gehören offensichtlich einer älteren Textschicht an, und später wurden die Reihen I–III sowie V ergänzt, ohne jedoch die Capitulatio zu aktualisieren. Ob die Teile IV und VI sogar ursprünglich zu Isaaks Werk gehörten oder zumindest von Isaak selbst nachgetragen wurden, bedarf noch einer weiteren Analyse.

Ebenfalls aus der Vorlage übernommen wurden die beiden Zusätze zwischen der Praefatio und der Capitulatio (hier fol. 5v–6v), die in den Erstdruck von Jacques Sirmond († 1651) aus dem Jahr 1629 Eingang gefunden haben (vgl. Mordek 1980 S. 206f.; Pokorny 1995 S. 178): Kapitel 8 des Capitulare missorum Suessionense (BK 259) und ein diesem Kapitular, c. 7 nahestehendes Capitulum de immunitatibus et placitis incertum, sin non falsum (Mordek 1995 Anhang I Nr. 26). Das dritte bei Sirmond abgedruckte Zusatzkapitel steht im Kodex Paris, lat. 2449 nach der Capitulatio, während es in unserer Handschrift Paris, lat. 3877 fehlt. Étienne Baluze († 1718) hat für seine Ausgabe die editio Sirmondiana zugrunde gelegt, hat aber neben dem Codex Paris, lat. 3841 (s. X², Frankreich) auch unsere Handschrift des Monats für Korrekturen herangezogen.

Die Vorlage unserer Sammlung dürfte also die Capitula Isaaks von Langres mit den Zusätzen vor der Capitulatio, die sechs Exzerptreihen sowie die apokryphen Stücke aus der siebten Reihe enthalten haben. Unter diesem Material befinden sich neben den bereits genannten Kapitularienkapiteln auf fol. 70r auch noch Ansegis 1, 85 und auf fol. 71r–v das Capitulum de nonis et decimis (Mordek 1995 Anhang I Nr. 21), beide in der Exzerptreihe IV. Das Kapitel über den Kirchenzehnten ist ebenfalls in den Isaak-Exzerpten der Handschriften New York, The Hispanic Society of America, MS HC 380/819 (s. XI, Südwestfrankreich/Katalonien) und Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, 212 Gud. lat. (s. XIII, Nordfrankreich) überliefert, die beide der Isaak-Textklasse II angehören (vgl. Pokorny 1995 S. 170 u. 175; Mordek 1995 S. 1012–1014, Hs. New York von Mordek übersehen). Das Auftauchen dieses Kapitels in allen Isaak-Textklassen könnte vielleicht ein Hinweis darauf sein, dass diese Exzerptreihe auch schon dem Archetyp angehört hat. Zur Erinnerung: Reihe IV ist bereits in der erweiterten Capitulatio aufgenommen.

Es ist vielleicht interessant, darauf hinzuweisen, dass der Schreiber nach der Capitulatio ca. ein Drittel der Seite (12v) und die ursprünglich folgende (15r) leer ließ; die Capitula Isaaks beginnen erst auf fol. 15v. Der Kopist wollte scheinbar noch etwas Platz lassen, um die Capitulatio später zu ergänzen. Stattdessen wurde nach Fertigstellung der Abschrift irgendwann ein Unio an dieser Stelle (foll. 13f.) eingefügt und der freie Raum mit Nachträgen versehen. Außerdem wurde dem Buchblock irgendwann noch ein Binio vorangebunden, das ebenfalls mit Nachträgen versehen ist. Daher trägt die ehemals erste Seite mit dem Besitzvermerk heute die Zählung fol. 5r.

Der Kodex Paris, lat. 3877 ist einer der wenigen, die in Mordeks Bibliotheca keine Handschriftenanalyse erfahren haben. Diese Aufgabe wurde nun für die Capitularia-Homepage nachgeholt. Unbekannt war bislang der Nachtrag auf fol. 12v mit Ansegis 1, 1 (=Admonitio generalis, c. 1). Weitere Ansegis Kapitel finden sich auf fol. 4v (Ansegis 2, 27f.), fol. 15r (Ansegis 3, 43) und foll. 93v–94r (Ansegis 4, 22). Die Handschrift enthält folgende Zusatzkapitel aus Benedictus Levita: 1, 196f.; 1, 205f.; 1, 251; 1, 343 (foll. 14r–15r) und Add. 4, 171 (oder Capitulare Wormatiense, BK 191) (fol. 83v). Erwähnenswert erscheint noch die Rezeption des Römischen Rechts (drei Stücke aus der Epitome Aegidii: CTh. 16, 3f. u. Nov. Theod. 3, fol. 69r–v; und eine Konstitution Theodosius II. und Valentinians III., fol. 79r) sowie eine bislang unbekannte Überlieferung der Lex Alamannorum, c. 19 (B) (fol. 84v). Zwei Stücke stammen aus anderen Bischofskapitularien: Theodulf von Orléans, c. 20 (fol. 3r) und Herard von Tours, c. 79 (fol. 83v). Aus der fränkischen Gesetzgebung findet sich schließlich noch auf fol. 15r das Capitulum de contentione inter partem ecclesiasticam et saecularem (Mordek 1995 Anhang I Nr. 20).

Abb. Paris, BnF, Lat. 3877, fol. 84r (© Gallica): Nachträge und Ergänzungen, hier auch in Tironischen Noten.

Der Kern der Sammlung bietet also hauptsächlich karolingisches Material. Die Capitula Isaaks von Langres dürften das Hauptinteresse für die Anschaffung der Handschrift gewesen sein. Rudolf Pokorny nimmt an, der Bischof von Langres habe sein Werk „nicht vor den sechziger Jahren des 9. Jahrhunderts“ (S. 162) erarbeitet. Unter Berücksichtigung der fortgeschrittenen Evolution der Vorlage, dürfte die heute im Kodex 3877 erhaltene Abschrift einige Zeit nach 860 entstanden sein (vgl. Mordek 1975 S. 126 mit Anm. 114), sodass das vierte Viertel des 9. Jahrhunderts eine gute Einschätzung darstellt. Unter den späteren Zusätzen klafft eine Lücke einerseits zwischen dem Bischofskapitular Herards von Tours († 30. Juni, wohl 871, Kapitular v. 16. Mai 858) und einem Gedicht Gottschalks von Orbais († 866~870, fol. 4r) und andererseits dem Kapitular Ottos III. als jüngste Nachträge. Ob die Handschrift wirklich über hundert Jahre gebraucht wurde, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Sicher ist jedoch, dass der letzte Nachträger am Ende des 10. Jahrhunderts die Handschrift sehr gut kannte und das Kapitular in der thematisch richtigen Exzerptreihe einfügte.

Semih Heinen


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:
Fournier 1899, S. 357–373
Mordek 1975, S. 175–180
Schmitz G 1977, S. 360–386
Mordek 1980, S. 203–210
Mordek 1995, S. 1011–1014, S. 1021f. und 1033
Pokorny 1995, S. 161–179
Schmitz G 2008a (abgerufen am 18.10.2017)
Bischoff 2014, S. 92f. Nr. 4292

Empfohlene Zitierweise
Semih Heinen, Handschrift des Monats November 2017: Paris, BnF, Lat. 3877, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-november-2017/ (abgerufen am 22.12.2024)