Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats April 2018: München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 19416

Einem verschwundenen Text auf der Spur

Zu Beginn des Jahres besuchten wir die Bayerische Staatsbibliothek in München, um uns eine besonders interessante Kapitularienüberlieferung im Original anzusehen. Der Codex München, BSB, lat. 19416 ist in handlichem Format gestaltet (140-145 × 110-115 mm) und überliefert eine der wenigen ‚reinen‘ Kapitulariensammlungen. Nach Alfred Boretius „ist die Handschrift wegen ihres klaren und unverfälschten Textes sowie dadurch werthvoll, daß die Capitularien vollständig und in richtiger Trennung voneinander aufgenommen sind“ (Boretius 1864, S. 43 f.) – umso bedauerlicher ist es, dass einige Blätter verlorengegangen sind und noch dazu ganze Seiten aus unerfindlichen Gründen radiert wurden.

Von den genannten Verlusten beeinträchtigt wurde u.a. das Hlotharii capitulare Papiense (BK 201) auf foll. 85r-89v. Der Anfang des Textes ist bis zum Ende von c. 3 durch Blattverlust verloren und die letzten Worte des Schlusskapitels wurden mit dem gesamten unteren Seitenrand von fol. 89 abgeschnitten. Auf foll. 85r-87r wurde der komplette Text radiert; davon betroffen sind die cc. 3-9 (ohne c. 6, das laut Mordek 1995 S. 363 vermutlich in dieser Kopie fehlte).

Am Original ließen sich mithilfe einer Quarz- sowie einer Taschenlampe doch noch einige Schriftreste auf den radierten Seiten sichtbar machen. Die entzifferten Passagen bestätigen die Vermutung, dass es sich bei dem radierten Text um BK 201 cc. 3-5 sowie 7-9 gehandelt haben muss. Auch kleine Abweichungen im Wortlaut konnten wir feststellen, z.B. in c. 9, wo es um Strafen für die Verweigerung der Annahme des neu eingeführten Denars geht. Unfreie, die so handelten, sollten 60 Hiebe erhalten, wie es in den anderen Überlieferungen des Textes übereinstimmend heißt: Si vero servi ecclesiastici aut comitum aut vasallorum nostrorum hoc facere praesumpserint, sexaginta ictus vapulent (vgl. Boretius 1897, S. 61 Z. 31-33). Aus den fragmentarisch erkennbaren Schriftresten der Münchener Handschrift geht jedoch eine abweichende Lesart hervor: S……. [ecc]l.si..tic. [a]ut comitum aut ..s.ll.rum [nrm. pro] LX sol. (danach wurde ca. 1/4 der Zeile bis zum Zeilenende freigelassen, es folgt in neuer Zeile:) ….s ….let. Möglicherweise verstand der Schreiber diese Stelle so, dass ein Unfreier mit „so vielen Hieben wie es dem Gegenwert von 60 Solidi entsprach“ (pro LX sol[idis] [ictus vapu]let) bestraft werden sollte. Die am Ende der Zeile nach sol. freigelassene Lücke deutet freilich darauf hin, dass er sich bei der Lesung dieser Stelle unsicher war.

Warum der größte Teil des Textes radiert wurde, ist unklar. Schon Mitte des 16. Jahrhunderts, als Vitus Amerpach den Codex als Vorlage für seinen Druck „Praecipuae Constitutiones Caroli Magni …“ (Amerpach 1545) benutzte, waren die Rasuren vorhanden, wie aus Amerpachs Kommentar hervorgeht: Hic duae paginae cum dimidia vacuae sunt … .

Abb.: V. Amerpach, “Praecipuae Constitutiones Caroli Magni …” (Ingolstadt 1545), fol. 99r. (© BSB München).

Amerpach ging allerdings noch davon aus, dass es sich bei dem Anfang der Kapitelliste auf fol. 84v (Rubrik: HEC SVNT CAPITVLA QUE PRO LEGE HABENDA SVNT) und dem auf fol. 87v wieder einsetzenden Text um Beginn und Ende ein und desselben Kapitulars handelte: … hoc est finis primae leg. huius Tit. et principium septimae cum interpositis integris legibus desunt. Da zu seiner Zeit noch keine Edition der Kapitularien existierte (die erste Ausgabe legte Pierre Pithou 1588 vor), konnte Amerpach auch noch nicht wissen, dass es sich eigentlich um zwei unterschiedliche Listen handelte, nämlich um den Beginn von BK 193 und das Ende von BK 201 – und dass demzufolge nach fol. 84 weitere Blätter verlorengegangen sein müssen.

Abb.: München, BSB, lat. 19416, fol. 84v (© BSB München): Beginn von BK 193 (Rubrik und Anfang von c. 1).

Amerpach bot sogar eine mögliche Erklärung für die Rasuren: Er spekulierte, dass die betroffenen Kapitel schon im vorangehenden Teil der Sammlung enthalten gewesen seien und daher hier wieder getilgt worden sein könnten, um Wiederholungen zu vermeiden: fortasse propterea sunt omissae, quia supra etiam alicubi haberentur, et ne uelut actum ageretur, aut pluribus fieret, quod fieri poterat paucioribus. Zu dieser Hypothese könnte ihn der Wortlaut von c. 14 (auf fol. 89v des Münchener Codex), dem letzten Kapitel der Liste, verleitet haben, wo es heißt, dass „diese Kapitel aus den Kapiteln“ der Vorgänger Lothars „exzerpiert“ worden seien (hec capitula quę excerpsimus de capitulis sanctę memorie aui nostri karoli ac domni nostri hluduuici inperatoris), was nahelegt, dass die radierten Passagen die angesprochenen Exzerpte und damit bloße Wiederholungen älterer Bestimmungen gewesen sein könnten.

Gegen Amerpachs Vermutung, es könnte sich um eine bewusste Tilgung ausgesuchter Kapitel aufgrund ihres Inhaltes handeln, spricht allerdings, dass die Rasur die Folia 85r-87r komplett einbezieht, aber die folgenden Folia 87v-89v überhaupt nicht betroffen sind. Zudem setzt der Text auf fol. 87v mitten in Kapitel 8 wieder ein, und zwar mit noluerit predictum bannum – dass nur dieser fragmentarische Schluss absichtlich stehenbleiben sollte, erscheint unwahrscheinlich. Diesen letzten Teilsatz von c. 8 schlägt Amerpach übrigens noch stillschweigend dem Text zu, der schon vor der Rasur auf fol. 84v beginnt, nämlich BK 193 c. 1 (… sicut in Capitulare priori constitutum, [ab hier: Ende von c. 8] noluerit praedictum bannum lx. Solid. comp.; Amerpach 1545, fol. 99r).

Das Rätsel der radierten Passagen konnten wir also nicht lüften – dennoch haben wir dem Original der Handschrift einiges entlocken können, was bisher unbekannt war.
Für die freundliche Unterstützung des Personals im Handschriftenlesesaal der BSB bedanken wir uns herzlich!

B. Mischke


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)
Zum Blogpost “Handschrift des Monats Oktober 2016” (Erster Blogpost zu dieser Handschrift)


Literatur:
Amerpach 1545, foll. 99r-101r
Pithou 1588
Boretius 1864, S. 42-44
Boretius 1897, S. 59-63
Mordek 1995, S. 357-364

Empfohlene Zitierweise
Britta Mischke, Handschrift des Monats April 2018: München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 19416, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-april-2018/ (abgerufen am 19.03.2024)