Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Gent, Universiteitsbibliotheek, 506

Beschreibung der Handschrift nach Mordek

Aufbewahrungsort
Gent
Universiteitsbibliotheek
506, foll. 108-109
Sigle: Gt
Digitalisat verfügbar bei Universiteitsbibliotheek Gent
Entstehung und Überlieferung
Entstehung:

9. Jh., gegen Ende (Mordek), 9. Jh., 3. Viertel für pag. 3-218 und 9. Jh., Mitte für pag. 219-222 (Bischoff); wohl westrheinisches Gebiet (Mordek), wohl westliches Rheinland für pag. 3-218 und Ostrfrankreich für pag. 219-222 (Bischoff).

Provenienz:

St. Maximin in Trier (Besitzvermerke fol. 114v: Codex sancti maximini. Si quis abstulerit anatema sit cum proditore iuda AMEN; Codex sancti maximini; Codex sancti maximini archiepiscopi treuerensi) (alte Signatur: N. 30); im ältesten Maximiner Bibliothekskatalog (um 1100) erwähnt als liber Alitgarii de penitentia (Nr. 120), ed. M. Keuffer, Bücherei und Bücherwesen von S. Maximin im Mittelalter, in: Jahresbericht der Gesellschaft für nützliche Forschungen zu Trier von 1894 bis 1899 (Trier 1899) S. 53; durch den geschäftstüchtigen Antiquar und Fälscher J. M. Klotten nach 1800 an den Genter Bibliothekar P. Lammens, von diesem an die Öffentliche Bibliothek Gent. Alte Signatur, die in der Literatur begegnet: 83.

Äußere Beschreibung
Material: Pergament
Umfang: Insgesamt 114 foll. (seit ca. 1978 foliiert). Zwei Teile mit Zusätzen: I. foll. 2-66 (9. Jh., 3. Viertel); II. foll. 67-109 (9. Jh., 3. oder 4. Viertel), foll. 108-109 nachgetragen (fol. 109 „scheint“ nach Bethmann „ein verbundenes Blatt zu sein“); Zusätze foll. 110-111 (9. Jh, Mitte oder 2. Hälfte) und foll. 112-114 (10./11. Jh.).
Zeilen: 32
Spalten: 1
Schrift: karolingische Minuskel
Inhalte
Anmerkung:

Cod. Gent 506 ist nicht identisch mit dem Cod. Gandavensis, nach dem Sirmond, Concilia antiqua Galliae 2, S. 323, die sonst nirgends tradierten Capitula originis incertae (a. 813 vel post) gedruckt hat (MGH Capit. 1, Nr. 79, S. 175 Z. 17-31); sie zeigen Verwandtschaft mit den Capitula e canonibus excerpta des Jahres 813 (MGH Capit. 1, Nr. 78, S. 173-175) und waren in der verlorenen Genter Überlieferung an deren Ende gesetzt. Während der erste Teil der Sammelhs. vom Paenitentiale Halitgars von Cambrai als einzigem größerem Werk gefüllt wird, vereint der zweite Teil recht disparates kirchliches Material, darunter das Paenitentiale Pseudo-Gregorii (vollständige Überlieferung, erheblich älter als der einzige bislang bekannte Textzeuge für das Gesamtwerk Cod. Montpellier H 137), die Briefe Gregors I. an Secundinus, Isidors von Sevilla an Massona und den Libellus responsionum Gregors I. an Augustinus von Canterbury (JE 1843), die Capitula Theodulfs von Orléans, Sakramentartexte und schließlich - von anderen Händen enger geschrieben - wieder rechtlich relevante Stücke:

  • 108r-v
    I-VII - Capitulare ecclesiasticum (a. 818/819), Inskription, Rubrik, cc. 1-7, Anfang (ohne ersichtlichen Grund abbrechend): INCIP. CAP. LUDOUUICI IMPERATORIS. Haec capitula proprię ad episcopos - perdocere debent. Quia iuxta sanctorum patrum traditionem nouimus - Statutum est (MGH Capit. 1, Nr. 138, S. 275 Z. 34 - S. 277 Z. 14); Inskription IN EODEM vor c. 6; sechs Zeilen von fol. 108v leer, außer Eintrag von anderer Hand (12. Jh.) aus c. 6: Similiter quoque de his est agendum. Rest der Seite leer.
    Wenn Werminghoff, MGH Conc. 2, 1, S. 466 unsere Genter Hs. unter den Überlieferungen des Capitulare concilii Aquisgranensis a. 817 aufzählt (= Capitulare monasticum III [MGH Capit. 1, Nr. 170 und CCM 1, S. 515 ff.]), so könnte sich dieser Irrtum auf die Angabe Maassens zurückführen, der - allerdings völlig korrekt - auf das bei Pertz, MGH LL 1, S. 206 f. gedruckte „Capitulare Aquisgranense a. 817 Ludwig’s des Frommen“ verweist (= Capitulare ecclesiasticum, a. 818/819 [MGH Capit. 1, Nr. 138, S. 275 ff.]).

  • Das Folgende steht, wiewohl von anderen Händen geschrieben, dem Thema des Voraufgehenden (Capitulare ecclesiasticum, c. 6 De servorum vero ordinatione ...) durchaus nahe:

    109r-v
    (109r und 109v je eine andere Hand) Sendfragen über Gemeindepriester (Si in hac parroechia natus sit et nutritus atque tonsoratus uel si in alterius episcopi diocesi ad aliquem gradum promotus sit - post orationem dominicam addere soliti sumus. Nach Einschub von der Hand des 12. Jh. Explicit prologus. Incipit liber tercius Fortsetzung des alten Textes mit Si fidem catholicam et symbolum orationemque dominicam bene intellegat - et si habeat impetratam ecclęsiam in cuius titulo ordinetur), ähnlich den Fragen gegen Ende der Inquisitio Reginos von Prüm (ed. Wasserschleben, S. 25 f., Fragen 76 ff.), doch vielfach abweichend. Ich hoffe, auf das meines Wissens noch nirgends behandelte Stück an anderer Stelle näher eingehen zu können.
    Kanon oder Bischofskapitel zur Pfarrerwahl (Ut presbiter eligatur per electionem hominum bonorum in illa parroechia degentium in cuius ecclesię titulo ordinatur), Timotheusbrief-Zitate über Priester und Diakone (1 Tim. 3, 2-4 [teils gekürzt; Beginn: Oportet presbiterum statt episcopum], 6-10 [nach Diacones similiter Zusatz: ut episcopos et presbiteros]) und schließlich Formel zur Diakon- und Priesterwahl (Auxiliante domino deo et saluatori nostro iesu christo eligimus in ordine diaconi hos [i]ill. in titulo illo et in ordine presbiteri idest hos ill. in titulo illo (-o radiert oder verblaßt), si quis autem habet aliquid contra hos uiros pro deo et propter deum cum fiducia exeat et dicat uerum tamen memor sit communionis suę).

  • Als Addenda folgen foll. 110-111
    (früher pagg. 219-222), auf deutlich kleineres Format (20 Zeilen) gebracht, ein Fragment des Paenitentiale Pseudo-Gregorii (ed. F. Kerff, in: Aus Archiven und Bibliotheken. Festschrift für Raymund Kottje zum 65. Geburtstag [Frankfurt am Main u. a. 1992] S. 180 Z. 314 - S. 182 Z. 341, S. 186 Z. 401 - S. 187 Z. 431) und foll. 112r-114r (22-35 Zeilen) eine interessante Kombination zum Thema Buße, das angeblich bonifatianische Redemptionsdictum (ähnlich Schmitz, Bußbücher 2, S. 699 f. u. ö.) und der selten überlieferte Sermo LX Caesarius’ von Arles (ed. G. Morin, CCL 103 [1953] S. 263-266).

Bibliographie
Literatur:
  • Handschriften-Verzeichnisse, in: Archiv für Ältere Deutsche Geschichtskunde 8 (1843) S. 549 f. Nr. 83 (L. Bethmann)
  • Semmler 1960, S. 320 mit Anm. 53
  • H. Knaus, Die Trierer Handschriften in Gent, in: Handelingen der Maatschappij voor Geschiedenis en Oudheidkunde te Gent, Nieuwe Reeks, Deel 16 (1962) S. 1-17 (allgemein zum Schicksal der in Gent liegenden Trierer Hss.)
  • Maassen 1967, 5, S. 195
  • Mordek 1975, S. 223 Anm. 38
  • Kottje 1980, S. 24 f. u. ö.
  • F. Kerff, Das Paenitentiale Pseudo-Gregorii III. Ein Zeugnis karolingischer Reformbestrebungen, in: ZRG Kan. Abt. 69 (1983) S. 51 f.
  • H. Schiel, Handschriften aus Trier und aus Klöstern und Stiften des Trierer Raumes in Brüssel und Gent, in: Armaria Trevirensia. Beiträge zur Trierer Bibliotheksgeschichte (2., stark erweiterte Aufl., hg. von G. Franz = Bibliotheca Trevirensis 1, Wiesbaden 1985) S. 68 Nr. 23
  • Krämer 1989a, S. 775 und 3, S. 203
  • Meens 1994, S. 246 f., 513 u. ö.
Kataloge:
  • J. de Saint-Genois, Catalogue méthodique et raisonné des manuscrits de la Bibliothèque de la ville et de l'Université de Gand (Gent 1849-1852) S. 384 f. Nr. 551
  • A. Derolez, Inventaris van de handschriften in de Universiteitsbibliotheek te Gent (Gent 1977) S. 43


Transkription

Editorische Vorbemerkung zur Transkription

Transkriptionsvorlage: Scan vom Mikrofilm in ausreichender Qualität.

Schreiber

Gut lesbare karolingische Minuskel. Alle Kapitel wurden von derselben Hand geschrieben.

Buchstabenformen

Bis auf die Verwendung eines leicht verlängerten Minuskel-i in der Verbindung mit Nasal am Wortbeginn (neben seltenerem Majuskel-I), eines dreiförmig geöffneten g, bei dem nur der untere Bogen annähernd geschlossen ist, von Majuskel-N und ab und an eines teilweise sehr ausgreifenden Balkenfortsatzes am e, der schräg nach oben zeigt, gibt es keine besonders auffälligen Buchstabenformen.

Interpunktion

Verwendet werden regelmäßig distinctiones mediae, die aber fast auf der Grundlinie der Zeile stehen, sowie punctus elevati und periodi, diese zur Kennzeichnung des Endes eines Sinnabschnitts bzw. Kapitelendes.

Gliederungsmerkmale

Die Handschrift bietet einen Auszug aus BK 138. Im Gegensatz zur Behauptung Mordeks 1995, S. 127, dass der Auszug die cc. 1-7 beinhalte, finden sich realiter nur cc. 1-4 und 6-7. Das fehlende fünfte Kapitel wird von der Nummerierung ausgelassen, sodass diese von IV zu VI springt. BK 138 c. 7 wurde angefangen, bricht aber nach zwei Wörtern ab. Die Nummerierung bis c. 6 steht am rechten Seitenrand und wurde wohl von anderer Hand ergänzt (alles fol. 108r). Im Text selbst werden die Kapitelanfänge nur durch vergrößerte Majuskeln markiert; nur vor dem sechsten Kapitel steht einleitend IN EODEM. Die Kapitelnummer VI ist zudem als einzige mit dem Zusatz CAP versehen. Nummer VII wurde dagegen noch in die gleiche Zeile geschrieben, in der c. 6 endet, und ist vom Schreiber selbst geschrieben worden.

[fol. 108r] [1]
INCIPIUNT CAPITULA LUDOUUICI IMPERATORIS ˙  
Haec capitula proprie ad episcopos uel ad ordines quosque ecclesi[a]sticos pertinentia sunt quae non solum ipsi obseruare sed etiam sibi subiectis uel commissis1* facienda docere debent ˙  
 · I ·  
[BK 138 c. 1]
Quia iuxta sanctorum patrum traditionem nouimus res ecclesię uota · esse · fidelium pretia peccatorum et patrimonia pauperum cuique non solum habita conseruare uerum etiam multa deo opitulante conferre optamus ˙ Tamen ab ecclesia de non diuidendis rebus illius suspicionem dudum2* conceptam penitus amoueremus statuimus ut neque nostris neque filiorum et deo dispensante successorum nostrorum temporibus qui nostram uel progenitorum nostrorum uoluntatem uel exemplum imitare uoluerint nullam penitus diuisionem aut ab iecturam patiatur ˙  
1*
gek. com
2*
u2 korr. (?)
 · II ·  
[BK 138 c. 2]
Sacrorum canonum non ignari ut in dei nomine sancta ecclesia suo liberius potiretur honore assensum ordini ecclesiastico praebuimur [!] · ut scilicet episcopi per electionem cleri · et populi secundum statuta canonum de propria diocesi remota personarum et numerum [!] acceptione ob uitę meritum et sapientię donum eligantur · ut exemplo et uerbo sibi subiectis usquequaque prodesse ualeant ˙  
III  
[BK 138 c. 3]
Quia uero canonica professio a multis partim ignorantia · partim desidia dehonestabatur opere pretium duximus deo annuente apud sacrum conuentum ut ex dictis sanctorum patrum uelut ex diuersis pratis quosdam uernantes3* flosculos carpendo in unum regulam canonicorum et canonicarum congerere · et canonicis uel sanctismonialibus [!] seruandam contradere · ut per eam canonicus ordo absque ambiguitate posset seruari ˙ Et quoniam illam sacer conuentus ita eam4* laudibus extulit ut usque ad unum5* iota obseruandam percenseret · statuimus6* ut ab omnibus in eadem professione degentibus indubitanter teneatur · et modis omnibus siue a canonicis siue a sanctimonialibus canonice degentibus7* deinceps8* obseruetur ˙  
3*
s ergänzt
4*
a korr. (?)
5*
korr. aus annum
6*
Nach dem Wort folgt ein Bogen unbekannter Funktion. Vielleicht sollte damit der kleine Zwischenraum bis zum ut überbrückt werden.
7*
d korr. (?)
8*
d korr. (?)
IIII  
[BK 138 c. 4]
Statutum est ut quicquid tempore imperii nostri a fidelibus ecclesię sponte collatum fuerit in dicioribus locis duas partes in usus pauperum · tertiam in stipendia cedere clericorum aut monachorum · In minoribus uero locis9* aeque inter clerum et pauperes fore diuidendum · nisi forte a datoribus ubi specialiter dandę sint constitutum fuerit  
9*
folgt getilgtes duas partes in usus pauperum
CAPITULUM VI IN EODEM  
[BK 138 c. 6]
De seruorum uero ordinatione qui passim ad gradus ecclesiasticos indiscrete promouebantur placuit omnibus cum sacris canonibus concordari debere .' et statutum est ut nullus episcoporum deinceps eos ad sacros10* ordines promouere presumat · [fol. 108v]nisi prius a dominis propriis libertatem consecuti fuerint ˙ Et si quilibet seruus dominum suum fugiens aut latitans ut adhibitis testibus munere conductis uel corruptis aut qualibet calliditate uel fraude ad gradus ecclesiasticos peruenerit decretum · est · ut deponatur · et dominus eum11* recipiat ˙ si uero auus uel pater ab alia patria in aliam migrans in eadem prouincia filium genuerit · et ipse filius ibidem educatus et ad gradus ecclesiasticos12* promotus fuerit et utrum seruus sit Ignorauerit ˙ Et postea ueniens dominus illius legibus eum adquisiuerit · sancitum est ut dominus eius illi libertatem dare uoluerit In gradu suo permaneat ˙ Si uero eum catena13* seruitutis a castris dominicis extrahere uoluerit · ut gradum amittat · quia iuxta sacros ordines uilis persona manens sacerdotii dignitatem fungi non potest ˙ De rebus uero illorum uel peculiare quia propriis dominis libertatem donantur ut ad gradus14* ecclesiasticos iure promoueantur · statutum est · ut in potestate dominorum consistat · utrum illis concedere an sibi uindicare uelint · caeterum si post ordinationem aliquid adquisiuerit illud obseruetur quod in canonibus de consecratis nihil habentibus constitutum est ˙ De ecclesiarum uero seruis communi sententia decretum est · ut archiepiscopi per singulas prouincias constituti nostram15* auctoritatem ˙ Suffraganei uero illorum exemplar illius penes se habeant · et quandocumque de familia16* ecclesię utilis inuentus aliquis ordinandus est in ambone ipsa auctoritas coram populo legatur · et coram sacerdotibus uel coram fidelibus laicis et ante cornu altaris sicut in nostra exauctoritate continetur remota quilibet calliditate libertatem consequatur · et tunc demum ad gradus ecclesiasticos promoueatur ˙ Similiter quoque de his agendum est · quos laici de familia ecclesiarum ad sacros ordines promouere uoluerint .' sed et his quos praepositi canonicorum aut monachorum ordinandos expetiuerint eadem forma seruanda est ˙  
10*
s2 korr. (?)
11*
e korr. (?)
12*
s1 korr. (?)
13*
korr. aus canna
14*
d korr. (?)
15*
nram ohne erkennbaren Kürzungsstrich.
16*
korr. aus famalia
VII  
[BK 138 c. 7]
Statutum · est ·17*  
17*
Der Text bricht hier abrupt ab. Es folgt in neuer Zeile von einer Hand des 12. Jahrhunderts (Datierung nach Mordek 1995, S. 127-128): Similiter quoque de his est agendum. Bis auf die Transposition von agendum est zu est agendum handelt es sich hierbei um den Beginn des letzten Satzes von c. 6 des Capitulare ecclesiasticum. Der Rest der Seite ist frei geblieben.