Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats Oktober 2017: Paris, BnF, Lat. 4995

Paläographisch lässt sich die nur 38 Blätter umfassende Rechtshandschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 4995 auf das 10. Jahrhundert datieren. Gleichwohl stammen fast alle enthaltenen Rechtstexte aus den ersten beiden Dekaden des 9. Jahrhunderts, mit der Kapitulariengesetzgebung Ludwigs des Frommen von 818/819 als jüngstem Bestandteil. Daher ist zu vermuten, dass der Schreiber eine alte, womöglich noch im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts entstandene Vorlage kopierte, wobei er mehr Sorgfalt auf die optische Gestaltung legte als auf einen korrekten Wortlaut. Möglicherweise kann diese Vorlage im Pariser Raum lokalisiert werden. Jedenfalls findet sich unter den weiteren enthaltenen Texten auch ein Kapitular in der Ausfertigung für den Amtsbereich der beiden missi Fardulf, Abt von St. Denis, und Graf Stephan von Paris (Eckhardt W 1956, S. 504f.).

Abb. Paris, BnF, Lat. 4995, fol. 29v: BK 34 mit der Nennung von fardulfus & stephanus (© Gallica)

Bei den enthaltenen Kapitularien Ludwigs des Frommen auf fol. 12v-19r handelt es sich um die auch in einigen anderen Handschriften zu findende Kombination von BK 139 und BK 140, letzteres in einer Sonderform, die dem Kapitular eine Variante von Kapitel 6 von BK 138 voranstellt sowie nach dem letzten Kapitel wechselnde Teile von BK 156 folgen lässt (hier dessen Kapitel 1 und 2). Unmittelbar daran angehängt sind zwei kurze Exzerpte aus der Lex Alamannorum bzw. der Lex Baiuvariorum (fol. 19r). Den Hauptteil der Handschrift bildet eine Zusammenstellung von 12 Kapitularien aus der Kaiserzeit Karls des Großen (fol. 19v-37r). Diesen eigentlichen Rechtstexten hat nun entweder der Kopist des 10. Jahrhunderts oder bereits der Kompilator seiner Vorlage zwei ältere Texte vorangestellt, die die Handschrift programmatisch eröffnen. Dabei handelt es sich zum einen um Auszüge aus dem fünften Buch der Etymologien des Isidor von Sevilla, hier zum Thema des göttlichen und menschlichen Rechts, de legibus divinis sive humanis (fol. 9r-12r).

Abb. Paris, BnF, Lat. 4995, fol. 9r (© Gallica)

Zum anderen findet sich auf den ersten acht Blättern des Codex eines von nur drei erhaltenen Exemplaren der von 708 bis 799 reichenden Annales Petaviani. Dieses stark auf die Reichsgeschichte konzentrierte Werk aus der Gruppe der sogenannten „kleinen Annalen“ hat sich bislang aufgrund seines weitgehenden Mangels an spezifischen Lokalnachrichten einer genaueren Verortung entzogen. Karl Ferdinand Werner mutmaßte aufgrund dieser Charakteristika, die Annalen könnten mit dem Ziel verfasst worden sein, „Texten der Reichsgesetzgebung einen chronologischen Vorspann zur karolingischen Geschichte zu geben“ (Werner 1973, S. 146). Obwohl auch eine weitere der drei Handschriften die Annalen mit Kapitularien kombiniert (Vatikan, BAV, Reg. Lat. 520), ist diese These jedoch nicht zu halten. Denn die in ihrem früheren Teil aus älteren Werken kompilierten Annales Petaviani wurden spätestens seit 778 selbständig jährlich fortgesetzt, hätten also ursprünglich in Verbindung mit Rechtstexten aus dieser Zeit auftreten müssen. Doch von allen in den betreffenden Handschriften zu findenden Kapitularien datiert lediglich ein einziges aus dem 8. Jahrhundert.

Auch die von Werner aus dem Wortlaut des Berichts zum Tod Karlmanns, des jüngeren Bruders Karls des Großen, abgeleitete Vermutung, die Annalen seien auf dem Boden von Karlmanns Teilreich enstanden, beruht für sich zunächst nur auf schwachen Indizien. Allerdings finden sich in der Pariser Handschrift der Annalen sechs zusätzliche Einträge für die Zeit zwischen 747 und 770, die sich um Karlmanns Familie zentrieren lassen (Werner 1973, S. 147-150), darunter der berühmte Eintrag zum Geburtsjahr Karls des Großen, auf dessen Grundlage Matthias Becher, an Überlegungen Werners anschließend, die Geburt des ersten Frankenkaisers auf den 2. April 748 datieren konnte.

Abb. Paris, BnF, Lat. 4995, fol. 2v: Notiz zur Geburt Karls des Großen zum Jahr 747, wobei der Annalist mutmaßlich
ein neues Jahr jeweils erst mit Ostern beginnen ließ (© Gallica)

Dieses Sondergut gehört zwar nicht zum ursprünglichen Bestand der Annales Petaviani, dürfte aber nicht nur im Teilreich Karlmanns, sondern möglicherweise auch in engem Kontakt zu dessen Hof entstanden sein. Ein wichtiges Mitglied in Karlmanns Hofkapelle aber war Fulrad, der als Abt von St. Denis zugleich ein Amtsvorgänger des in BK 34 erwähnten missus Fardulf gewesen war. Fulrad war nach dem Tod seines Herren umgehend auf die Seite Karls des Großen übergetreten – wie denn auch die bis 771 ganz von ihren Vorlagen abhängigen Annales Petaviani in den folgenden Jahren stets loyal für Karl Partei ergreifen und z.B. dessen Niederlage bei Roncesvalles 778 in ihrem ansonsten sehr detailreichen Jahresbericht mit Schweigen übergehen.

Wenngleich die einzelnen Indizien nicht zwingend sind, so kann doch festgehalten werden: Wer auch immer zu Beginn des 9. Jahrhunderts die Vorlage unseres Pariser Codex zusammengestellt hat, dürfte nirgends bessere Aussichten gehabt haben, alle darin verbundenen Texte an einem Ort versammelt zu finden als in der ehrwürdigen Königsabtei von St. Denis.

S. Kaschke


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:
Stein 1941, S. 12-14
Eckhardt W 1956
Fleckenstein 1959, S. 45-48
Werner 1973
Becher 1992
Mordek 1995, S. 549-555
Kaschke 2006, S. 155-168

Empfohlene Zitierweise
Sören Kaschke, Handschrift des Monats Oktober 2017: Paris, BnF, Lat. 4995, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-oktober-2017-paris-bnf-lat-4995/ (abgerufen am 29.03.2024)