Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats April 2017: Schaffhausen, Stadtbibliothek, Min. 75

Der in der Stadtbibliothek Schaffhausen aufbewahrte Codex Min. 75 ist ein Repräsentant einer kleinen Gruppe von Sammelhandschriften, die rechtliche und historische Texte kombinieren. Sie enthalten mehrere Kapitularientexte, und zwar sowohl im Rahmen der Sammlung des Ansegis als auch in von dieser unabhängiger Überlieferung, und stellen ihnen u.a. die Biographie Ludwigs des Frommen von Thegan zur Seite. Diese aus drei noch heute erhaltenen Handschriften bestehende Gruppe wurde von Gerhard Schmitz für die Edition der Collectio Ansegisi bereits eingehend untersucht. Neben dem Schaffhausener Codex gehören die Handschrift Bonn, Universitäts- und Landesbibliothek, S 402 (12. Jh.) – die bereits eine unserer „Handschriften des Monats“ war – sowie die Handschrift Paris, BN, Lat. 4417 (Ende 9. Jh.) dazu.

Die Schaffhausener Handschrift wurde von mehreren Schreibern in karolingischer Minuskel wohl im südwestdeutschen Raum (nach Matthias Tischler: evtl. in Trier?) geschrieben und war für lange Zeit im Besitz des Klosters Allerheiligen in Schaffhausen. Ihre Datierung schwankt zwischen dem späten 11. und der Mitte des 12. Jahrhunderts. Während Albert Bruckner aufgrund des paläographischen Befundes den ersten Teil der Handschrift (foll. 1r-25v) einer Hand um 1100 zuwies und den Rest – der auch die Kapitularien enthält – auf nach 1150 datierte, weisen andere Indizien, auf die Ernst Tremp aufmerksam machte, auf ein früheres Entstehungsdatum hin. Im letzten Teil der Handschrift, der Thegans Gesta Hludowici imperatoris enthält (foll. 91r-97v), findet sich nämlich in c. 33, in dem die Verleihung Frieslands an den dänischen Thronprätendenten Harald Klak im Jahr 826 beschrieben wird, eine Glosse mit dem Wortlaut: sunt anni CCLXIIII, was bei einer Addition zu 826 das Jahr 1090 ergeben würde. Wenn damit das Jahr, in dem der Glossenschreiber den Text las und kommentierte, korrekt bezeichnet ist, muss dieser Teil der Handschrift also bereits ca. ein halbes Jahrhundert vor dem Datierungsvorschlag Bruckners fertiggestellt gewesen sein.

Abb. 1: Schaffhausen, SB, Min. 75, f. 96v (http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/sbs/min0075) (© e-codices). Rot eingekreist: Glossierung “sunt anni CCLXIIII”.

Die enge Verwandtschaft der drei oben genannten Handschriften lässt sich auch im Teil mit den unabhängig von der Collectio Ansegisi überlieferten Kapitularien auf den ersten Blick erkennen: Alle drei tradieren nämlich die im Kontext der Wormser Versammlung von 829 entstandenen Kapitularien Ludwigs des Frommen in Form einer einzigen, zusammenhängenden Liste (in der Reihenfolge BK 184, 186, 191, 192, 193, 189) im Anschluss an die Sammlung des Ansegis. Die Nummerierung der Kapitel weicht in den drei Handschriften allerdings geringfügig voneinander ab; die Bonner Handschrift zählt 40 Kapitel, die Pariser Handschrift hingegen 42 (obwohl es faktisch nur 41 sind; hier sind bei der Zählung mehrere Fehler unterlaufen). In der Schaffhausener Handschrift sollten es wohl ebenfalls 41 Kapitel werden; die Kapitelzählung in roter Tinte bricht hier allerdings nach c. XXXII ab, wobei im folgenden Lücken für eine Ergänzung der Nummern im Text freigelassen wurden.

Die Schaffhausener Handschrift weist nun einen interessanten Unterschied zu den beiden anderen auf: Dort wird die Kapitelliste mit dem Wormser Material nämlich der Sammlung des Ansegis zugerechnet! In allen drei Handschriften wird die Collectio Ansegisi mit einem Incipit als Liber legis Salicae bezeichnet, also gewissermaßen mit der Lex Salica identifiziert. Doch nur in der Schaffhausener Überlieferung findet sich auch noch ein entsprechendes Explicit: EXPLICIT LIBER SALICE LEGIS – und zwar nicht, wie zu erwarten, im Anschluss an Ansegis, sondern erst nach den daran anschließenden Wormser Kapitularien (fol. 91r).

Abb. 2: Schaffhausen, SB, Min. 75, f. 91r (http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/sbs/min0075) (© e-codices).

Eine weitere Besonderheit in der Kopie dieser Kapitelliste unterscheidet die Schaffhausener Handschrift von ihren beiden Schwesterhandschriften: Während die beiden anderen keine Kapitelrubriken aufweisen, hat Schaffhausen an zwei Stellen zusätzlich zur Kapitelzählung einleitende Überschriften in roter Tinte: Bei c. XXVI und XXVII (= BK 192 cc. 9 und 11). Allerdings handelt es sich dabei lediglich um die Satzanfänge der jeweiligen Kapitel, die als Rubriken gestaltet wurden: (c. XXVI, Rubrik) De homicidiis uel aliis iniustitiis quę fiscalinis nostris fiunt (Text) Quia inpune se ea committere posse exsistimant … (s. Abb. 3) und (c. XXVII[I], Rubrik) De pontibus Publicis et iniustis theloneis (Text) Placuit nobis ut hi qui iussionem nostram in reparandis pontibus contempserunt … (s. Abb. 4).

Abb. 3: Schaffhausen, SB, Min. 75, f. 89r (http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/sbs/min0075) (© e-codices), Anfang von c. XXVI.

Abb. 4: Schaffhausen, SB, Min. 75, f. 89r (http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/sbs/min0075) (© e-codices), Anfang von c. XXVII[I] (die letzte Ziffer wurde radiert, obwohl XXVIII die korrekte Zählung wäre).

Würden die Rubriken fehlen, wären die Verfügungen der entsprechenden Kapitel unvollständig. Und genau dies lässt sich bei der Bonner Schwesterhandschrift beobachten, wo die Satzanfänge, die in Schaffhausen wie alleinstehende Rubriken erscheinen, nicht vorhanden sind. Bei BK 192 c. 9 ist der Satz (Quia se ea inpune committere posse existimant …) ohne den Anfang nahezu unverständlich, denn dass es hier um Totschlag oder andere Verbrechen geht, die von Fiskalinen ungestraft begangen werden, steht nur in der – hier weggelassenen – Pseudo-Rubrik. Im zweiten Fall, bei BK 192 c. 11, scheint dem Schreiber selbst aufgefallen zu sein, dass etwas fehlt; so hat er einen alternativen Satzanfang erfunden: Volumus atque iubemus ut omnes illi homines nostri …, wonach der Text wie in den anderen Überlieferungen fortfährt: … qui iussionem nostram in reparandis pontibus contempserunt …. Diese Einleitung findet sich in dieser Form in keiner anderen Überlieferung. Da die Brücken (pontes), um deren Instandhaltung es in diesem Kapitel geht, wenig später genannt werden, ist dieser Satz auch ohne die einleitende Rubrik verständlich.

Offenbar kann die Schaffhausener Handschrift hier nicht die direkte Vorlage für die Bonner Kopie gewesen sein, denn dann hätte der Schreiber der Bonner Handschrift sicherlich nicht den alternativen Satzanfang von BK 192 c. 11 erfunden, sondern den in Schaffhausen vorhandenen – auch wenn dieser dort als Rubrik erscheint – übernommen. Wahrscheinlich fehlten also schon in der verlorenen Vorlage der Bonner Handschrift diese Pseudo-Rubriken, die die Vorlage der Schaffhausener offensichtlich enthielt; ansonsten wäre es schwer erklärbar, dass der Schreiber den Platz für die Rubriken aussparte und diese hinterher in einem separaten Arbeitsdurchgang mit roter Auszeichnungstinte ergänzt wurden. Denn dass die Rubrizierung erst später erfolgte, sieht man nicht nur daran, dass zumindest die erste der beiden Kapitelüberschriften nur mit Mühe in den etwas zu knapp bemessenen Freiraum gezwängt wurde, sondern auch daran, dass der Rubrikator eine kleine, aber entscheidende Veränderung des Wortlautes vornahm: Er änderte das erste Wort des Kapitels von Qui zu Quia, indem er – in seiner roten Tinte – das a über dem Wort ergänzte (s.o. Abb. 3). So wird der Satz zum Kausalsatz, der direkt an die Rubrik anschließt und erst in dieser Form seinen eigentlichen Sinn erhält. In der ältesten der drei Handschriften, Paris Lat. 4417, werden die beiden Kapitelanfänge im Übrigen noch als solche behandelt und nicht als Pseudo-Rubriken optisch abgetrennt. Dies scheint erst in einer der späteren, verlorenen Zwischenstufen der Überlieferung geschehen zu sein.

Diese Beobachtungen lassen erkennen, dass die Schreiber der Schaffhausener Handschrift beim Kopieren der Texte mitdachten und sich ihre eigene Meinung dazu bildeten, indem sie den an Ansegis angehängten Teil mit dem Wormser Material als einen inhaltlich dazugehörigen interpretierten. Der Vergleich der Überlieferung der Wormser Kapitelliste in der Schaffhausener Handschrift mit der Schwesterhandschrift aus Bonn bestätigt darüberhinaus das Urteil Gerhard Schmitz’, dass letztere nicht direkt aus ersterer abgeschrieben haben kann, auch für den von Ansegis unabhängigen Teil der enthaltenen Kapitularien.

B. Mischke


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Literatur:

Bruckner 1935-1978, Bd. 6, S. 66, 75, Tafel XLV
Schmitz G 1980
Schmitz G 1996, S. 148-150 und 234-239
Tischler 2001, S. 1587 f.
Tremp 1994, S. 37 u. S. 50 ff.

Empfohlene Zitierweise
Britta Mischke, Handschrift des Monats April 2017: Schaffhausen, Stadtbibliothek, Min. 75, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-april-2017/ (abgerufen am 29.03.2024)