Capitularia - Edition der fränkischen Herrschererlasse

Handschrift des Monats September 2018: Vatikan, BAV, Reg. lat. 520

Nur die wenigsten der etwa 300 erhaltenen Handschriften mit fränkischen Kapitularien sind reine Kapitularienhandschriften. Die meisten enthalten daneben weitere Texte der unterschiedlichsten Art, wie etwa Volksrechte, Konzilsakten, Kirchenrechtssammlungen, Predigten, Urkunden und Formelsammlungen, theologische, exegetische und enzyklopädische Ausführungen, oder Briefe. Zwei Gattungen sind jedoch auffällig dünn vertreten: Hagiographie und Historiographie. Jennifer Davis hat auf Grundlage von Mordeks Bibliotheca eine Liste aller Handschriften mit historiographischen Texten im weitesten Sinne erstellt (Davis 2015, S. 185-186). Auf dieser finden sich zunächst immerhin 19 Handschriften, meist jeweils nur mit einem derartigen Text. Doch betrachtet man die Liste genauer, fallen einige Besonderheiten ins Auge.

Vier Handschriften enthalten lediglich spätantike (Orosius), angelsächsische (Beda) oder hochmittelalterliche (Chiemseer Herrscherliste) Texte, sechs weitere ausschließlich italienische (langobardische, päpstliche). Werke aus dem Bereich der fränkischen Historiographie finden sich somit nur in den verbleibenden neun Handschriften, darunter Auszüge aus Gregor von Tours, die fortgesetzte Chronik des Erchanbert, die kurze Origo Francorum Bonnensis, die Vita Karoli Einhards sowie Thegans Gesta Hludowici. Annalen hingegen, jene für die Karolingerzeit so typische Form der Geschichtsschreibung, fehlen nahezu komplett. Die einzige Ausnahme hiervon sind die Annales Petaviani, die dafür aber gleich in zwei Handschriften, wenngleich in leicht abweichenden Fassungen, überliefert werden: in Paris, BnF, lat. 4995 sowie in Vatikan, BAV, Reg. lat. 520, einem Sammelcodex, der versprengte Teile verschiedener Handschriften vereint.

Abb. Vatikan, BAV, Reg. lat. 520, fol. 104ra: Übergang von BK 104 c. 2 zum ersten Jahresbericht (a. 708) der Annales Petaviani (©Biblioteca Apostolica Vaticana).

Im Gegensatz zur Pariser Handschrift stehen die Annalen im Reginensis 520 nicht am Beginn einer Zusammenstellung von Kapitularien, sondern inmitten einer kleinen Reihe von acht Kapitularien. Diese beginnt fragmentarisch mitten in BK 3 und schließt mit BK 82, womit die ursprüngliche Handschrift wohl auch endete, da bis zum Lagenende (fol. 110v) nur noch Nachträge von späterer Hand folgen. Was auf den vorhergehenden, heute verlorenen Lagen (wohl zehn an der Zahl), gestanden haben könnte, bleibt unklar. Die enge Verwandtschaft des Textblocks aus BK 3, 7 und 20a mit drei weiteren Handschriften – Paris lat. 4628a, Paris lat. 4760 und Paris lat. 10758 – lässt es zumindest möglich erscheinen, dass sich vor BK 3 eine Exzerptreihe aus Isidors von Sevilla Etymologien (vor allem aus Buch 5 zum göttlichen und menschlichen Recht) befand, die auch in den anderen Handschriften diesen drei Kapitularien vorangestellt ist. Solche und ähnliche Exzerptreihen unter Einschluss von Material aus Buch 5 der Etymologien finden sich insgesamt in 18 Kapitularienhandschriften, sind also keineswegs selten. Es ist ein eigenartiger Zufall, dass auch der oben erwähnte Pariser Codex mit dem zweiten Exemplar der Annales Petaviani eine derartige Exzerptreihe enthält, wenngleich es ansonsten kaum Berührungen zwischen den in beiden Codices aufgenommenen Kapitularien gibt.

Optisch hat der Schreiber die Annalen kaum von den umgebenden Kapitularien abgesetzt. Nach einer Leerzeile folgen die Annalen ohne Überschrift. Der Übergang zum historiographischen Interludium wird lediglich durch eine Leerzeile und eine größer als sonst ausgeführte Initiale markiert. Der Wechsel zurück in den Bereich der Kapitularien ist sogar noch unauffälliger gestaltet:

Abb. Vatikan, BAV, Reg. lat. 520, fol. 108ra: Ende der Annales Petaviani (mit der Jahreszahl für einen nicht mehr ausgeführten Bericht zu 800), Beginn von BK 62 (©Biblioteca Apostolica Vaticana).

Von einem „chronologischen Vorspann“ zu „Texten der Reichsgesetzgebung“ (Werner 1973, S. 146) kann schwerlich die Rede sein, zumindest nicht für diese recht nachlässig angefertigte Abschrift. Angesichts der gedankenlos mit abgeschriebenen Jahreszahl für einen im Archetyp wohl noch geplanten, dann aber nie geschriebenen Bericht für 800, lässt sich vielleicht nicht ausschließen, dass dem Schreiber hier gar nicht bewusst, oder doch weitgehend egal war, dass sich hier ein historiographischer Text zwischen seine Vorlagen geschoben hatte. Der Kontext gibt jedenfalls Rätsel auf. Eingerahmt werden die Annalen von BK 20a, dem gewichtigen und zahlreich überlieferten Capitulare Haristallense Karls des Großen von 779, und seinem eher wortkargen BK 62 von 809. Insofern ließe sich angesichts des Berichtszeitraums von 708-799 am ehesten ein vages chronologisches Motiv vermuten. Allerdings löst das nicht die grundsätzliche Frage, wozu überhaupt historiographische Texte mit Kapitularien verbunden wurden. Als Auftakt zu den Stücken eines bestimmten Herrschers oder einer umfassenden Kapitulariensammlung wie jener des Ansegis oder des sogenannten Benedictus Levita – wie es in anderen Handschriften denkbar wäre – fungieren die Annalen hier jedenfalls nicht. Doch auch inhaltlich fügen sich die stark auf militärisch-dynastische Ereignisse fokussierten Jahresberichte der Petaviani nicht sonderlich gut zu den umgebenden Kapitularien, von denen zwei, die hier unikal überlieferten BK 83 und 84, sogar in die Nähe von Bischofskapitularien gerückt wurden (Mordek 1995, S. 828-829; Brommer 1985, S. 58).

Vielleicht hatte diese kodikologische Vergemeinschaftung von Reichsgeschichte und kirchlicher Sphäre später auch Angelo Mai dazu inspiriert, die im Reginensis 520 gebotene Fassung der Annales Petaviani 1841 in seine Reihe von Papstbiographien einzuschieben. Für die weitere Erforschung der in Kapitularienhandschriften begegnenden Sammlungsstrukturen sind die Annalen jedenfalls eine wertvolle Anregung, nicht nur die jeweilige Gruppierung mit anderen Kapitularien oder sonstigen Rechtstexten auszuwerten, sondern auch derartige „Fremdkörper“ einzubeziehen. Gelegentlich können vielleicht gerade sie den Schlüssel für die Motivation des jeweiligen Kompilators liefern.

S. Kaschke


Zur Handschriftenseite (Beschreibung nach Mordek und Transkription)


Literatur:
Mai, Angelo (Hg.), Fasti Karolini ab anno DCCVIII ad DCCC, in: Spicilegium Romanum 6 (1841), S. 180-190
Eckhardt W 1967, S. 11-12, Sigle K 68
Werner 1973
Brommer 1985, S. 58
Mordek 1995, S. 827-830
Bischoff 2014, S. 431, Nr. 6695
Davis 2015

Empfohlene Zitierweise
Sören Kaschke, Handschrift des Monats September 2018: Vatikan, BAV, Reg. lat. 520, in: Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse, bearb. von Karl Ubl und Mitarb., Köln 2014 ff. URL: https://capitularia.uni-koeln.de/blog/handschrift-des-monats-september-2018-vatikan-bav-reg-lat-520/ (abgerufen am 28.03.2024)